Tag: 19. Jh.

  • Historische Bausubstanz in Bukarest: Starkes Erdbeben hätte fatale Folgen

    Historische Bausubstanz in Bukarest: Starkes Erdbeben hätte fatale Folgen


    Die Bausubstanz der rumänischen Hauptstadt Bukarest ist seit Jahrzehnten eine einzige Leidensgeschichte. Die Enteignung vieler Immobilien-Eigentümer durch die kommunistischen Machthaber, die grö‎ßenwahnsinnigen Umgestaltungspläne des Diktators Ceaușescu, die oft mit Korruption einhergehende Rückerstattung mancher Gebäude nicht immer an die rechtmä‎ßigen Besitzer, vor allem aber die Untätigkeit der Stadtväter seit der Wende haben der historischen Bausubstanz hart zugesetzt. Nicht wenige Gebäude sind nach jahrzehntelanger Vernachlässigung nicht nur in einem desolaten Zustand, sondern könnten im Fall eines grö‎ßeren Erbebens zur Gefahr werden — ein vollständiger Einsturz vieler Gebäude ist nicht auszuschlie‎ßen. Es geht dabei in erster Linie um massive Funktionalbauten oder Wohnhäuser aus der Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jh. bis zu den ersten Dekaden des 20. Jh. Viele davon sind seit ihrer Errichtung nur unzulänglich konsolidiert oder renoviert worden — schuld daran ist nicht nur die Stadt, sondern in manchen Fällen auch die alten oder neuen Eigentümer, die entweder nicht ausreichend Geld oder kein Interesse an einer sachgemä‎ßen Konsolidierung haben. Ștefan Bâlici ist Architekt von Hause aus und Leiter des Nationalen Instituts für Historische Bausubstanz. Er ist der Meinung, dass man es in Bukarest auch mit einem Mangel an Bewusstsein für den Wert des architektonischen Erbes zu tun hat — trotz einiger bescheidener Projekte zur Restaurierung von historisch relevanten Gebäuden:



    Ich glaube, wir leben immer noch mit der negativen Einstellung, nach der ein historisches Baudenkmal eher als Problem angesehen wird, statt als erhaltungswürdiges nationales Erbe zu gelten. Solange wir keine effizienten und wirksamen Instrumente zur Verfügung haben, um diese weitverbreitete Mentalität zu ändern, werden wir weiterhin tatenlos zusehen müssen, wie historische Bauten abgerissen oder dem Verfall preisgegeben werden. Ein Gebäude in die Liste geschützter Baudenkmäler aufzunehmen reicht nicht aus, um den Verfall aufzuhalten. Schlie‎ßlich gilt die ganze Altstadt von Bukarest als Baudenkmal — und trotzdem passieren immer wieder unsachgemä‎ße Eingriffe. Denkmalschutz bedeutet auch gewisse Einschränkungen — der Abriss ist strengstens verboten, aber auch für etwaige Eingriffe oder Veränderungen braucht man Genehmigungen, die wiederum Behördengänge erfordern und höhere Kosten verursachen — für Eigentümer ist das kein Segen, viele fühlen sich gegängelt. Das Gleichgewicht kann nur durch Unterstützung der Eigentümer wiederhergestellt werden — oder schlicht durch Finanzierungsprogramme.“




    In anderen rumänischen Gro‎ßstädten wie Timișoara (Temeswar) oder Oradea (Gro‎ßwardein) laufen seit einigen Jahren beeindruckende Konsolidierungs- und Restaurierungsprogramme für die historische Bausubstanz der Innenstadt. In Bukarest schreitet man nur mühsam voran, denn zum einen ist die Stadt viel grö‎ßer und zum anderen gibt es mehrere Areale mit erhaltungswürdigen historischen Gebäuden, die oft in unterschiedlichen Stadtteilen liegen. Hinzu kommt, dass niemand das Gesamtbild kennt, also wei‎ß, wieviele Gebäude bei einem Erdbeben einsturzgefährdet sind und wie hoch die Gesamtkosten einer Konsolidierung wären, sagt Radu Văcăreanu, Professor an der Bauhochschule Bukarest:



    Bei uns auf der Bauhochschule haben wir eine schnelle und nur ungefähre Kostenveranschlagung für die Konsolidierung der Bausubstanz in Rumänien gemacht. Und wir sind auf eine Summe von 13–14 Mrd. Euro gekommen. Denken Sie sich noch eine ähnliche Kalkulation für die effiziente Wärmedämmung aus — der Green Deal ist ja in aller Munde –, dann kommen wir locker auf insgesamt 27. Mrd. Euro. Selbst wenn der Weihnachtsmann höchstpersönlich aufkreuzen und uns mit diesem Geld überschütten würde, hätten wir nicht die Möglichkeit, ein solches Megaprojekt umzusetzen. Weder der Staat noch die Bauunternehmen verfügen über eine solche administrative Kapazität. Was wir brauchen und tun können, ist eine Priorisierung, und dafür müssen wir das exakte Ausma‎ß des Problems in Bukarest eruieren. Wir sind ein bisschen auf Tuchfühlung auch mit der Situation der Erdbebengefährdung gegangen. Hier gibt es zwei Ebenen, die man berücksichtigen muss. Zu aller erst ist die Sicherheit der Menschen wichtig, die in einsturzgefährdeten Gebäuden wohnen — es geht also schlicht um Menschenleben. Und wenn wir schon von Erdbeben sprechen, müssen wir zweitens auch die Schadensbegrenzung vorplanen.“




    Doch was hat die Stadt bislang in dieser Hinsicht getan? Mit dieser Frage haben wir uns an Edmond Niculușcă gewandt, den Leiter des Bukarester Amtes für Konsolidierungsarbeiten. Er sagt, dass unlängst ein Programm zur Sanierung und Konsolidierung der historischen Gebäude gestartet wurde, das von der Stadt — bei aller Knappheit der Ressourcen — mitfinanziert wird.



    Das Amt für Konsolidierungsarbeiten ist eine relativ neue Institution unter der Obhut der Stadt. Als ich mein Amt vor acht Monaten übernahm, musste ich überrascht feststellen, dass es unter den insgesamt 90 Angestellten keinen einzigen Ingenieur mit Spezialisierung in Baustrukturen gab — und damit habe ich schon vieles gesagt. Es stimmt zwar, dass es keine spezifischen Finanzierungsprogramme gibt. Aber nicht der Geldmangel ist das eigentliche Problem. Wir wissen, dass die Stadt generell knapp bei Kasse ist, doch das Amt für Konsolidierungsarbeiten hat momentan keine Finanzierungsschwierigkeiten. Unser Programm anvisiert alle historischen Baudenkmäler in denkmalgeschützten Arealen, einschlie‎ßlich einiger Gebäude, denen das Denkmalstatus aberkannt wurde. Es handelt sich um Kredite mit Immobilien-Garantie, die in 25 Jahren zurückgezahlt werden müssen. Die Eigentümer können sich nach bestimmten Kriterien für dieses Programm bewerben, und wir unterstützen sie während der gesamten Zeit der Renovierungs- und Konsolidierungsarbeiten, angefangen bei der Projektphase bis hin zur Durchführung. Und wir stehen ihnen mit Rat und Tat auch für die Behördengänge zur Seite, denn Genehmigungen können eine ziemlich komplizierte Sache sein. Die Stadt beteiligt sich mit 50–75 % des Gesamtetats. Es ist das erste Finanzierungsprogramm dieser Art, das denkmalgeschützten Gebäuden in Bukarest gewidmet ist.“




    Stichwort Eigentümer — ihr Profil kann sehr unterschiedlich sein, und dabei spielt Geld fast immer eine Rolle. Es hat immer wieder Fälle gegeben, in denen historische Bausubstanz absichtlich dem Verfall preisgegeben wurde. Die pfiffige wie zynische Idee dahinter: Den betreffenden Gebäuden wird das Denkmalstatus aberkannt, aufgrund der Einsturzgefahr werden sie anschlie‎ßend abgerissen, um kostbare Grundstücke im Herzen der Stadt oder in begehrten Gegenden frei zu machen. Es gibt aber auch Eigentümer, die sich gro‎ßangelegte Konsolidierungsarbeiten einfach nicht leisten können. Edmond Niculușcă glaubt, dass in allen Fällen die Verantwortung in erster Linie bei der Stadt liegt.



    Es gibt Mieter- oder Eigentümervereine, die aus unterschiedlichen Gründen eine Konsolidierung des Wohnhauses ablehnen oder sich über die Durchführungsweise nicht einig sind. So kommen die Arbeiten dann ins Stocken und das ganze Projekt läuft ab oder verliert die vor längerer Zeit erteilte Genehmigung. Wir als Bauamt sind in solchen Fällen laut Gesetz verpflichtet, ein Protokoll zu erstellen, in dem steht, dass der oder die Eigentümer die Konsolidierungsarbeiten verhindern, damit das Einsturzrisiko im Falle eines Erdbebens billigend in Kauf nehmen und somit auch die Verantwortung für die Folgen übernehmen. Es stimmt also, dass es auch solche Situationen gibt, doch sie sind bei weitem nicht so verbreitet, wie in den letzten Jahren immer wieder behauptet wurde. In vielen Fällen sind die Eigentümer zurückhaltend oder misstrauisch, weil auch die Behörden bislang sehr undurchsichtig gehandelt haben. Niemand wusste so richtig genau, wieviel eine Renovierung kostet, was und wieviel von der Stadt finanziert wird und vor allem wie lange es dauert.“




    Auf der offiziellen Liste der akut einsturzgefährdeten Bauten im Falle eines Erdbebens in Bukarest stehen 349 Gebäude, doch NGO und Bauexperten erachten, dass die Dunkelziffer viel höher ist, denn selbst die Risikoevaluierung wurde bisher unsystematisch und unvollständig durchgeführt.

  • Constantin Dobrogeanu-Gherea (1855–1920): sozialdemokratischer Vordenker und Literat

    Constantin Dobrogeanu-Gherea (1855–1920): sozialdemokratischer Vordenker und Literat

    Constantin Dobrogeanu-Gherea wurde 1855 in Slawjanka bei Jekaterinoslaw in der heutigen Ukraine als Solomon Katz in einer Familie jüdischer Kaufleute geboren und hatte ein sehr abenteuerliches Leben. Die Familie gehörte zur Mittelschicht der damaligen russischen Gesellschaft — sein Bruder war Arzt, sein Vater Inhaber einer Bierbrauerei. Katz besuchte die Hochschule in Charkiw und fand als Student schnell den Anschluss zu russischen Anarchisten. Er nahm 1874 Teil am sogenannten Gang ins Volk“, einer Gro‎ßaktion der russischen Narodniki –Volksanarchisten, die als Studenten dem Bauernvolk die Revolution schmackhaft machen wollten.



    Verfolgt von der zaristischen Polizei, erreichte er die Stadt Iaşi in Rumänien und gelangte von hier aus in die Schweiz, wo er Verbindung mit den dortigen russischen Revolutionären aufnahm. Wieder zurück in Rumänien schmuggelte er illegale Literatur ins Russische Reich. Doch er lebte sich auch schnell in Rumänien ein, wo er 1890 auch die Staatsbürgerschaft erwarb. Zur damaligen Zeit war jedoch die rumänische Staatsbürgerschaft den christlich-orthodoxen Menschen vorbehalten. Solomon Katz wurde zu Constantin Dobrogeanu-Gherea, entschied sich für eine Karriere als Literaturkritiker und gehörte 1893 zu den Gründern der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rumäniens. Professor Călin Cotoi von der Universität Bukarest wei‎ß mehr über das Leben dieses linken Denkers:



    Sein Leben ist sehr interessant — er wird 1877 von der russischen Geheimpolizei entführt und nach Sibirien gebracht, von wo er über Norwegen flüchten kann und nach Rumänien zurückkehrt“ — Amerikaner würden ihn als larger than life beschreiben, meint Cotoi.



    Gherea lässt später ab von der gesellschaftlichen Vision der Narodniki und Anarchisten und wird zu einem der wichtigsten Vertreter des orthodoxen Marxismus nach Kautsky. Er übersetzt das Erfurter Programm“, versucht aber, den Marxismus an Rumänien anzupassen, dass damals als Agrarperipherie ganz andere Besonderheiten aufwies, erläutert der Historiker — der mehrsprachige Constantin Dobrogeanu-Gherea wurde in kurzer Zeit zu einem exzellenten Diagnostiker der gesellschaftlichen Missstände im rumänischen Dorf. Sein Buch zur neuen Leibeigenschaft wird zur echten Inspirationsquelle rumänischer Sozialisten.



    Gherea ist keine alleinstehende Figur“, sagt Professor Cotoi, es gibt ein breiteres Spektrum, in der es linkes Gedankengut und Sozialismus an diese Peripherie anzupassen gilt, in der Rumänien und Südrussland als Grenzgebiet zwischen Europa und dem russischen Reich lagen.“



    Er prägte den Begriff der neuen Leibeigenschaft — in seinem gleichnamigen Buch versucht er den Ideen eines anderen Ex-Narodniki, Constantin Stere, sein eigenes Konzept entgegenzustellen — sozialistische Ideen haben Sinn und Zweck in Rumänien und sind sogar die einzig fortschrittliche Denkweise, die auch in Rumänien existieren könnte. Solche Konzepte sollten dann auch die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rumäniens im Jahr 1893 mitbestimmen — Gherea war einer der Gründungsmitglieder, sagt Călin Cotoi: Die Partei war schon von Anfang an problematisch — die Mitglieder der Arbeiterklasse, insofern sie der Rede wert ist, hatten nicht alle die rumänische Staatsangehörigkeit Es waren viele Juden, Magyaren, Deutsche und siebenbürgische Rumänen darunter — dazu kommen, dass antisemitische Töne in der Arbeiterschaft laut werden und die Partei sie zu beschwichtigen versucht“, beschreibt der Historiker die damalige Lage.



    Die Partei brach schlie‎ßlich unter dem Gewicht der eigenen Paradoxien zusammen und Gherea wollte sich nicht vom Mahlstrom mitrei‎ßen lassen, umso mehr er gerade die rumänische Staatsbürgerschaft bekommen hatte. Er taucht also in den rumänischen kulturellen Mainstream ein und wird zu einem der bedeutsamsten Literaturkritiker, nachdem er in Konflikt mit der Koryphäe Titu Maiorescu gerät. Das hei‎ßt, dass einer der grö‎ßten linken Denker nicht als Parteimensch bekannt wird, sondern als Literat. Der Bukarester Historiker Cotoi meint, dass der im November 1917 auch nicht mehr jüngste Gherea das bolschewistische Regime eher ablehnt — er war ein Sozialist, der gegen die gesellschaftlichen Probleme mit demokratischen Waffen kämpfen wollte.



    Er war ein Sozialdemokrat à la Kautsky. Nach seiner Theorie versucht er, Politik zu leben. Und nach Kautsky sind die Bolschewiki eher Häretiker. Aber Gherea steht in Kontakt mit ihnen, mit Rakowski zum Beispiel. Ghereas Sohn wirkt dort mit, er selbst behält sich eine gewisse Autonomie vor und bleibt in der Sozialdemokratie deutscher Prägung“, findet der Bukarester Historiker.

  • Historische Fälschungen aus patriotischer Gesinnung: die Huru-Chronik

    Historische Fälschungen aus patriotischer Gesinnung: die Huru-Chronik

    Patriotische Fälschungen mobilisierten die latenten Energien, die sich paradoxerweise schlie‎ßlich positiv auf die nationale Emanzipation auswirkten. Mitte des 19. Jahrhunderts, nach dem Krimkrieg von 1853–1856, wurde das Schicksal der rumänischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei entschieden. Die nationale Bewegung, die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts entstanden war, forderte, dass sich die beiden Fürstentümer zu einem einzigen Staat zusammenschlie‎ßen und sich vom osmanischen Einfluss befreien.



    Dies konnte nur durch die Überzeugung der Gro‎ßmächte des Westens erreicht werden, und die rumänischen Eliten griffen zur Erreichung ihrer politischen Ziele zu allen Mitteln. Eines der Mittel war die Fälschung mittelalterlicher Dokumente, um zu zeigen, dass die Situation vor der Ankunft der Türken in Europa und der Eroberung der rumänischen Länder besser gewesen sei. Die bekannteste historische Fälschung mit patriotischem Hintergrund war die Huru-Chronik, die eine offizielle Chronik der Moldau aus dem 13. Jahrhunderts sein sollte und in der die lateinische Herkunft der Rumänen dargestellt worden wäre. Verfasser der Chronik sei ein gewisser Huru gewesen, der angebliche Chronist des Prinzen Dragoş, des Gründers der Moldau.



    Mircea Anghelescu ist Professor an der Philologischen Fakultät der Universität Bukarest und Autor des Buchs Mistificţiuni“, das sich mit Fälschungen, Apokryphen, Farcen und anderen Mystifikationen in der rumänischen Literatur beschäftigt. Eines der Kapitel konzentriert sich auf die Huru-Chronik, die er als typische Manifestation einer historischen Zeit betrachtet:



    Es gibt besondere Bedingungen, die das Umfeld schaffen, in dem patriotische Fälschungen entstehen. Der Kontext, in dem all dies geschieht, steht im Zusammenhang mit der Schaffung einer historischen Zeit. Die kritische Masse wird erreicht und die Idee wird geboren, und jemand setzt sie in die Tat um. Es wurde von Versuchen zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit gesprochen, von Konfrontationen, die Rumänen wähnten sich unter mehreren Feinden, es war sehr schwierig, auch nur eine gewisse Autonomie zu bewahren. Dies ist der historische Moment, der die Schaffung von Fälschungen und deren Verbreitung ermöglicht und unterstützt. Eine berühmte Fälschung vor den Fälschungen des 19. Jahrhunderts ist die eines maltesischen Mönchs. Im 18. Jahrhundert behauptete er, dass einige unwichtige arabische Manuskripte religiösen Inhalts Chroniken darstellen würden, in denen es Zeugnisse über einige Besitztümer auf Malta gibt. Napoleon intervenierte und der Mönch kam lebend davon. Sein Name war Giuseppe Vella. Doch die Fälschung hatte Konsequenzen — sie veränderte die Wirtschaftsordnung des Landes.“



    Patriotische Fälschungen mobilisieren Energien — das kritische Denken bleibt dabei allerdings auf der Strecke. Es galt, die höhere Vernunft“ über akademische Debatten walten zu lassen, und rumänische Intellektuelle nutzten die Praktiken der damaligen Zeit. Mircea Anghelescu erläutert weiter:



    In den Jahren kurz vor der Revolution von 1848 forderte die Proklamation von Heliade Rădulescu die Rückkehr zu einem Zustand vor der osmanischen Präsenz — mit folgenden Worten: ‚Wir machen keine Revolution, wir wollen eine Restitution!‘ — d.h. eine Wiederherstellung des Geltungsbereichs alter Gesetze. Die Proklamation brachte wahrscheinlich ein Mitglied der Familie Sion auf die Idee, eine Chronik zu fingieren, obwohl nie erwiesen wurde, wer die wahren Urheber der Fälschungen bzw. der Huru-Chronik waren. Sion berief sich auf alte Zeiten als eine Art Bescheinigung des ehrwürdigen Alters der eigenen Familie, weil er seine Kinder in eine russische Adelsschule in Sankt Petersburg einschreiben lassen wollte. Die gefälschte Huru-Chronik wurde in der Zeit nach dem Krimkrieg veröffentlicht, als die Zukunft der rumänischen Fürstentümer von dem abhing, was der Pariser Friedenskongress beschlie‎ßen würde. Wie kam es zur Fälschung? Einer der Nutznie‎ßer, der allerdings naiv und nicht selbst an der Fälschung beteiligt war, war der Nachkomme einer Bojarenfamilie, Boldur-Lăţescu, der behauptete: ‚Mit ist ein Dokument unter die Finger gekommen.‘ Niemand fragte ihn, woher er es hatte. Hatte er es von jemandem bekommen? Hatte er es in einem Archiv gefunden? Heutzutage, da wir eine legalistische Sicht der Geschichte haben, wäre dies die erste Frage an jemanden, der behauptet, ein historisches Dokument zu besitzen.“




    Wie jede Fälschung wurde auch die Huru-Chronik später als solche entlarvt, nachdem die politischen Forderungen der Rumänen erfüllt waren. Mircea Anghelescu erzählt, wie das Dokument als Fälschung enttarnt wurde:



    Die Sprache war der erste Hinweis, dass es sich um eine Fälschung handeln könnte, und die Zeitgenossen verwendeten dieses Argument in der Debatte, die ihren Höhepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte, als der Fall schlie‎ßlich gelöst wurde. Sie verglichen das älteste rumänische Schriftstück, das eine gewisse Konsistenz im Rumänischen hatte, Ende des 16. Jahrhunderts verfasst wurde und vollkommen verständlich war, mit dem Text der angeblichen Chronik von Huru. Der Text der Chronik ist absurd, die Satzgliedstellung ist dem Lateinischen nachempfunden, weil der Fälscher wohl annahm, dass eine ältere Sprachstufe des Rumänischen diese bewahrt habe. Es gibt auch Wörter, die von lateinischen Stammwörtern abgeleitet sind, als ob sie im Rumänischen erhalten geblieben seien, und hier inspirierte sich der Fälscher wahrscheinlich von Cantemir. Diese gekünstelte Sprache wäre sofort aufgefallen, wenn es in den Augen der Öffentlichkeit, auch in den Augen von Spezialisten, ein Gespür für historische Entwicklungen gegeben hätte. Das war am Anfang nicht der Fall, denn die kritische Perspektive kommt erst mit der Zeit, nach objektiver Forschung. Der erste Hinweis war also die Sprache. Der zweite Hinweis bezog sich auf das Wissen über ferne Zeiten. Diese Chronik beinhaltet eine ganze Reihe von Referenzen: Sie sei an einem bestimmten Tag geschrieben worden und ist vom Autor unterschrieben, als wäre sie ein notarielles Dokument. Niemand dachte im 14. und 15. Jahrhundert daran. Es wird auch erwähnt, wie die Rumänen politisch organisiert waren — in Scharen, als ob es sich um die biblischen Stämme Israels handelte. Alles wird in eine kirchliche Ordnung gegossen, die Anführer werden als eine Art Bischöfe dargestellt. Sogar ihre Kleidung wird beschrieben — wei‎ße und rote Togen mit bestimmten Knöpfen, je nach Rang. Doch Kenntnisse über die Kleidung der Frühzeit gab es damals noch nicht, Nachforschungen darüber wurden es erst später angestellt.“




    Historische Fälschungen mit patriotischem Hintergrund waren keine Hochstaplerei im eigentlichen Sinne, sondern ein fragwürdiger Weg, um politische Ziele zu erreichen. Und manche meinen, Machiavellismus zum Wohle der Allgemeinheit sei eine Kunst, kein moralisches Urteil.

  • Weltliche Volkslieder: Gegenstand des Kulturkampfs Anfang des 19. Jahrhunderts

    Weltliche Volkslieder: Gegenstand des Kulturkampfs Anfang des 19. Jahrhunderts

    Ein paar europäisierte Bojaren konfrontierten sich mit der kollektiven Mentalität der Gesellschaft, und eines der Schlachtfelder war die Mainstream-Kultur jener Zeit. Es gab keine erheblichen Unterschiede zwischen der hohen und der volkstümlichen Kultur, und die weltlichen Volkslieder erfreuten sowohl die oberen als auch die unteren Klassen. Die weltlichen Volkslieder waren kulturelle Produktionen mit orientalischen Einflüssen, und die Texte zeichneten sich durch eine starke Erotik aus, die oft an Unmoral und Trivialität grenzte. So waren die weltlichen Volkslieder eines der Ziele der Reformer, die den Wandel und die Europäisierung der rumänischen Gesellschaft vorantrieben.



    Anton Pann war ein Schöpfer von weltlichen Volksliedern. Er kam vom Balkan und wurde Mitglied einer Gruppe von Jugendlichen, die im orientalischen Bukarest den Ton des urbanen Lebens angaben. Der Ethnologe Nicolae Constantinescu, Professor an der Universität Bukarest, porträtierte Panns Platz in seiner neuen Heimat.



    Anton Pann stammte aus einem Gebiet südlich der Donau, im heutigen Bulgarien. Seine Mutter und zwei ältere Brüder starben in den Kriegen. Er hie‎ß Antonache, Sohn des Panteleon, aus Sliven, Bulgarien, der durch die rumänischen Länder wanderte. Er hat eine Zeit in Kischinew verbracht, dann in Bukarest, wo er sich im linguistischen und kulturellen Umfeld der Hauptstadt der Walachei integriert. Der Literaturwissenschaftler Paul Cornea meinte, er sei einer der ersten literarischen Vertreter Bukarests. Anton Pann war auch eine der Säulen der baccisch-erotischen Gesellschaft in den Tavernen und Gärten Bukarests.“




    Natürlich war die durchschnittliche Bukarester Gesellschaft nicht von Partys geprägt, aber die Gelage der Bojaren konnten jeden beeindrucken, besonders einen Fremden. Nicolae Constantinescu dazu:



    Es wäre falsch zu glauben, dass ganz Bukarest Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts seine Zeit mit rauschenden Partys verbrachte oder mit bunt gekleideten Musikanten an den Fenstern der adeligen jungen Damen vorbeizogen, die hinter den Gardinen hervorlugten. Nicht selten waren fremde Reisende vom modischen Leben in den Bojarenhäusern dennoch beeindruckt: üppige Mahlzeiten mit 50 Personen, mit feinen Gerichten, feinen Getränken, mit teurem Kaffee und Likören. Dokumente der Zeit erzählen uns genau, woher die Delikatessen kamen — besonders aus Wien. Die Musiker waren talentiert, die Frauen modisch gekleidet. Wir befanden und zwischen Orient und Okzident.“




    Eines der berühmtesten weltlichen Volkslieder, das auch heute geschätzt wird, war Panns Schöpfung: Leliţă Săftiţă“ (zu deutsch etwa: Liebes Lieschen“). Nicolae Constantinescu hat eine Definition des weltlichen Volksliedes:



    Was sind die weltlichen Volkslieder? Anton Pann wusste als Kirchengelehrter, wie man die Lieder notiert. Er schrieb sich die Melodie der Lieder auf, die er und die anderen sangen. Dabei benutzte er die Kirchenmusik-Notation. Nach 100 Jahren hat Gheorghe Ciobanu sie in die moderne Notation transkribiert und heute haben die Sänger sie aufgenommen, wie sie wahrscheinlich vor 150 Jahren gesungen wurden. Die von Anton Pann gesammelten Lieder waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts modische Lieder, eine Art Hofdichtung, die von namhaften Autoren wie Costache Conachi (1777–1849) im Auftrag geschrieben wurden. Auch Pann schrieb Texte, die er weder den Zeitungen noch der Presse gab, sondern den Sängern, die sie singen wollten. George Sion hat darüber geschrieben. Die Mode, die höchste Eleganz war für die jungen Bojaren, ihren Geliebten Konzerte zu schenken. An verschiedenen Orten in Iaşi sangen Musiker-Gruppen Liebeslieder für bestimmte Schönheiten der Zeit, nachdem sie dafür bezahlt wurden.“




    Anton Pann war Autor einer Sammlung von weltlichen Volksliedern mit dem Titel Krankenhaus der Liebe oder der Sänger der Sehnsucht“. In einer ersten Phase wurde er wurde von der Nachwelt verachtet. Dann änderte sich die Einstellung mancher Intellektueller gegenüber ihm, wie die des Dramatikers I.L. Caragiale. Nicolae Constantinescu erläutert weiter:



    Die Mode kam auch in den Süden. Der romantische Dichter Dimitrie Bolintineanu beklagte sich darüber mit folgenden Worten: ‚In den Städten singen die Musiker überall Liebeslieder. Die Walachei ertrinkt in diesen Liedern aus der Moldau, die meisten davon sind obszön.‘ Selbst Caragiale, der Partys liebte und viele Liebesbeziehungen hatte, verurteilt mit Schrecken die Sammlung »Krakenhaus der Liebe oder der Sänger der Sehnsucht«.“ Ich zitiere: ‚Inmitten dieser albernen Mode, jener Strömung trivialer Erotik, widerlicher Sentimentalität und lächerlicher Galanterie, mit der sich selbst viele geistreiche und talentierte Menschen besudelt haben, veröffentlichte Anton Pann, unser berühmter Volksdichter, neben so vielen bewundernswerten originalen Werken und Übersetzungen, eine Sammlung modischer Lieder… ein trauriger Schatz, ein Haufen literarischen Elends, die makellosen Zeugnisse der Dummheit einer Epoche.‘ Einige Zeit später dämpft Caragiale seine Vehemenz und schreibt, dass Anton Pann der rumänischen Literatur einen gro‎ßen Dienst erwiesen habe, indem er all jene Dokumente sammelte, die charakteristisch für den sozialen Status der Rumänen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren.“




    Mit der Zeit sind die weltlichen Volkslieder in Vergessenheit geraten und sind nur Gegenstand der folkloristischen Forschung geblieben. Und die Modernisierung der rumänischen Gesellschaft ist vorangekommen, mit Rückkehr zu Ursprüngen und Neuinterpretationen.

  • Nach Erfolg mit Balkan-Western „Aferim!“: Gespräch mit Produzentin Ada Solomon

    Nach Erfolg mit Balkan-Western „Aferim!“: Gespräch mit Produzentin Ada Solomon

    Eine Bestätigung für ihren Mut“ sei der Preis gewesen. Damit meinte die Produzentin Ada Solomon den Silbernen Bären für die beste Regie, mit dem der Balkan-Western Aferim!“ in Berlin ausgezeichnet wurde. Und natürlich den Filmemacher Radu Jude, mit dem sie das besonders komplexe“ Filmprojekt zu einem guten Ende führen konnte.



    Aferim!“ gilt bereits jetzt als eines der umfassendsten rumänischen Filmprojekte der letzten Jahre. Die Handlung des historischen Streifens spielt sich Anfang des 19. Jahrhunderts ab, als die Roma in Rumänien als Sklaven gehalten wurden. Teodor Corban spielt einen Landjäger, der sich mit seinem Sohn (Mihai Comănoiu) auf die Suche nach einem entlaufenen Roma (gespielt von Cuzin Toma) begibt.



    Die Dreharbeiten zu Aferim!“ fanden in der ostrumänischen Dobrudscha, im Măcin-Gebirge sowie im südrumänischen Giurgiu statt. Die Produktionskosten beliefen sich auf 1,4 Millionen Euro, die meisten Filmkulissen wurden für die Veranschaulichung türkischer Einflüsse nachgebaut. Überhaupt sei der Spielfilm Aferim!“, der im März seine Kinopremiere in Rumänien hatte, das komplexeste Projekt ihrer Produzentenkarriere, sagt Ada Solomon.



    »Aferim!« ist der Film mit dem grö‎ßten logistischen Aufwand von all meinen bisherigen Projekten. Es ist ein historischer Film, mit sehr vielen Statisten, bei dem fast 70% der Kulissen nachgebaut wurden… und die bereits existierenden Kulissen mussten angepasst werden. Darüber hinaus besteht die Komplexität dieses Films auch darin, dass das Drehbuch eine ganze Reihe von sozialen Themen behandelt. Es ist ein Film, der sich auf sehr wertvolle historische Quellen beruft, die jedenfalls bislang noch nie visuell erforscht worden waren. Das Drehbuch basiert auf der Volksliteratur und der Belletristik des 19. Jahrhunderts, es sind Literatur-Fragmente, denen der Film neues Leben einhaucht. All das macht »Aferim!« zu einem bedeutenden Film, nicht nur für mich, sondern für das rumänische Kino im Allgemeinen.“




    Der bekannte Kritiker Andrei Gorzo spricht in seiner Kolumne von dem wichtigsten rumänischen Film seit 2010“ — in Anlehnung an das Jahr der Premieren von Die Autobiographie von Nicolae Ceauşescu“, unter der Regie von Andrei Ujică, und Aurora“, unter der Regie von Cristi Puiu. Aferim!“ sei ein Kunstwerk, das in Zukunft zu den Klassikern des rumänischen Kinos gezählt werden wird… ein relevanter Eingriff in die Agenda der öffentlichen Debatten unserer Zeit“, so Gorzo. Dabei habe man sich nicht genau das vorgenommen, berichtet die Produzentin Ada Solomon:



    Ich glaube nicht, dass der Künstler sich etwas vornimmt, dass er nach einem bestimmten Programm arbeitet. Der Künstler geht nach seinem Gefühl vor, nach seiner Stimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist die Aufgabe der Kritiker, Filme einzuordnen, sie zu vergleichen, Werturteile abzugeben. Das, was über den Film gesagt wurde, ehrt uns zutiefst, und ich bin überwältigt von dem Ausma‎ß der Reaktion in Rumänien. Ich habe mir gewünscht, dass der Film auf Interesse stö‎ßt und gute Kritiken erhält, aber ich habe mir nicht vorgestellt, dass das Interesse so gro‎ß sein wird, dass man soviel darüber schreiben und dass er so tiefgründig untersucht werden wird. Für mich bleibt die Weitergabe der Lehren von Vater zu Sohn der Hauptbestandteil dieses Films… und irgendwie ist das auch ein Verbindungselement im Werk von Radu Jude, denn alle seine Filme haben Familienbeziehungen, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in ihrem Mittelpunkt. Und dieser Film kommt als natürliche Fortsetzung. Auch wenn die Handlung in eine vergangene Zeit, in eine andere Kulisse platziert wurde, erzählt der Film vor allen Dingen die Geschichte der Beziehung zwischen Ioniţă und Costandin.“




    Ada Solomon machte bei den wichtigsten Filmen von Radu Jude als Produzentin mit: etwa bei Lampe mit Hut“ (2006), dem erfolgreichsten Kurzfilm in der Geschichte des rumänischen Kinos. Der Streifen wurde mit über 50 Auszeichnungen bei internationalen Festivals belohnt, darunter bei Sundance, in San Francisco, Los Angeles und Uppsala. Auch für seinen Kurzspielfilm Alexandra“ erhielt Radu Jude im Jahr darauf wichtige Filmpreise wie den Hauptpreis der Kurzfilmtage Oberhausen. Wie ihre Beziehung zum Regisseur überhaupt zustande kam, wollten wir von der Produzentin Ada Solomon wissen.



    Ich wei‎ß nicht, ob ich Radu gewählt habe oder ob wir uns gegenseitig füreinander entschieden haben. Ich glaube, es beruht auf Gegenseitigkeit, ich bin sehr glücklich darüber, dass Radu mir vertraut hat und mich für die richtige Person hielt, die ihm dabei helfen kann, seine Ideen durchzusetzen. Unsere Beziehung hat sich mit der Zeit ergeben, dabei haben wir uns gegenseitig unterstützt, denn das ist keine Einbahnstra‎ße. Was mich an Radu fasziniert, ist seine Weitwinkel-Perspektive. Denn die Elemente in seinen Filmen sind stets begründet, sie haben stets mehr Wurzeln als auf den ersten Blick, das Fundament ist folglich sehr solide. Ich habe sehr viel von Radu gelernt, der Dialog und der Gedankenaustausch mit ihm ist immer ein Vergnügen, auch wenn wir uns nicht immer einig sind. Der Austausch erzeugt eine Art Attitüdenübung — und daran bin ich sehr interessiert. Alle Filme von Radu sind auch Beispiele von Verhaltensweisen. Es sind nicht nur einfache Kunstwerke, sie sagen mehr aus, sie werfen eine ganze Reihe von Fragen auf. Und ihr Verdienst ist es ferner, dass sie keine Werturteile abgeben, keine endgültigen Schlüsse ziehen, sie lassen die Dinge offen.“




    Es sei zwar unmöglich, die Vorurteile gegenüber den Roma abzubauen, dennoch sei sie sehr zufrieden über die unzähligen Reaktionen auf den Film Aferim!“, so Ada Solomon:



    Es war für mich herausragend, zu beobachten, dass Menschen aus allen möglichen Schichten sich mit dem Film aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. Egal ob ihnen die politische Herangehensweise oder die soziale Betrachtung wichtig war, der Film hat offenbar nicht nur Menschen aus der Filmwelt angezogen. Ich finde es interessant, dass viele Politikexperten auf den Film reagiert haben, auch in sozio-anthropologischer Sicht ist der Film ein sehr gutes Forschungsinstrument, er kann Debatten und Denkanstö‎ße auslösen über die Frage, wer wir sind und woher wir kommen und wie wir sind. Ich habe mich intensiv mit der Haltung der Mehrheit gegenüber der Minderheit beschäftigt, es ist weniger wichtig, ob es die Roma-Minderheit oder die jüdische Minderheit ist. Im Falle der Roma-Minderheit ist es normal, dass ihre 500-jährige Versklavung Spuren hinterlassen hat, es ist normal, dass die Minderheit sich nicht traut, die Erniedrigungen der Vergangenheit hinter sich zu lassen.




    Ada Solomon hat bereits in der Vergangenheit bei mehreren Filmprojekten mitgewirkt, die vielfach ausgezeichnet wurden. Etwa bei Cristian Nemescus Kurzfilm Marilena aus P7“, den Debütwerken von Răzvan Rădulescu (Allen voran Felicia“), Paul Negoescu (Einen Monat in Thailand“), Vali Hotea (Roxanne“) sowie den Dokumentarfilmen von Alexandru Solomon (Kapitalismus, unser Geheimrezept“, Cold Waves — Krieg auf den Wellenlängen“). 2013 wurde Ada Solomon mit dem Eurimages-Preis für Koproduzenten ausgezeichnet — dem Preis, mit dem die Europäische Film-Akademie die Bedeutung der Koproduktionen für die europäische Filmindustrie anerkennt. Au‎ßerdem ist Solomon Mitbegründerin und Direktorin des Internationalen Filmfestivals Next“ in Bukarest, des grö‎ßten Kurzfilm-Festivals in Rumänien, das den verstorbenen Filmemachern Cristian Nemescu und Andrei Toncu gedenkt.

  • Modernisierung in den Donaufürstentümern: Von der Lehmhütte zum Bauernhaus

    Modernisierung in den Donaufürstentümern: Von der Lehmhütte zum Bauernhaus

    Die rumänischen Fürstentümer haben am Anfang der modernen Periode tiefgreifende Wandelprozesse im Bereich der Politik, Verwaltung, Wirtschaft, des Sozialen und der Kultur durchgemacht. Viele Quellen deuten darauf hin, dass praktisch alles umgestaltet wurde. Die Lebensbedingungen der Bauern hatten aber den grö‎ßten Einfluss auf die sozialen Denker.



    Die Reformierer haben Sozialprogramme für die Emanzipation der Bauern eingeleitet. Das sollte die Wohnungen, die Hygiene und das Bild des rumänischen Dorfes verbessern. Viele alte Traditionen wurden dabei diskreditiert und beseitigt. Die sozialen Reformierer wollten insbesondere die traditionelle Behausung, das bordei, wegschaffen. Das bordei war eine halb in die Erde eingegrabene Lehmhütte.



    Dinicu Golescu, aufgeklärter Bojar und der Haupt-Reformierer der Walachei in den 1820er Jahren hat viel über die Misere in den rumänischen Dörfern geschrieben. 1826 beschrieb er den rumänischen Bauern folgenderma‎ßen: Er hat keine Kirche, kein Haus, keinen Zaun um das Haus, keinen Ochsen-Wagen, keinen Ochsen, keine Kuh, kein Schaf, kein Huhn, kein bewirtschaftetes Feld für die Ernährung der Familie, nichts. Nur ein paar halb in der Erde versunkene Zimmer, die sie »bordei« nennen. Da gehen sie rein und sehen nur ein Loch in der Erde. Da passen sie zusammen rein, mit Frau und Kindern rund um den Offen.“



    Die Lehmhütte war das Symbol des Rückstands der rumänischen Gesellschaft. Der Historiker Constantin Bărbulescu von der Babeş-Bolyai-Universität in Cluj/Klausenburg beschrieb, wie die Aufgaben der ersten sozialen Reformierer auch von den Ärzten übernommen wurde:



    Unter allen Haustypen mangelt es an Hygiene am meisten in der Lehmhütte. Es gilt als die unhygienischste rurale Wohnungsart. Deswegen wurde in der medizinischen Welt auch viel darüber diskutiert. Es wird exklusiv negativ über die ruralen Gegebenheiten diskutiert. Der Arzt Constantin Caracaş nennt 1830 alle Klischees, die in Gesprächen der Ärzte über Häuser in ruralen Regionen in Rumänien erscheinen: kleine Flächen, unhygienische Baumaterialien, Haufen von Tierexkrementen, der Schlamm in den Höfen, keine Ställe für die Tiere. Der Arzt Istrati studierte Ende des 19. Jahrhunderts die Hygiene der Dorfbewohner aus der Sicht des Wissenschaftlers. In einem ziemlich bekannten Werk meint er sich wissenschaftlich damit zu befassen. Istrati beschreibt aber nur mit wissenschaftlichen Begriffen die ruralen Häuser. Diese Beschreibung ist der seiner Vorgänger sehr ähnlich.“



    Istrati schrieb seinerseits, dass die meisten rumänischen Bauern unter schlechteren Bedingungen als die Zulus“ leben würden. Durch diesen Vergleich sollte das Ausma‎ß des Desasters beschrieben werden. In nur 50 Jahren hatte sich diese Wahrnehmung der Bauern jedoch geändert. Ein Überlegenheitskomplex nahm die Stelle des Mitleids ein. Der Historiker Constantin Bărbulescu dazu:



    Wenn wir die Beschreibungen der ruralen Wohnungen vom Ende des 18. Jahrhunderts oder vom Anfang des 19. Jahrhunderts mit den medizinischen Texten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vergleichen, scheint der Unterschied nicht gro‎ß zu sein: dieselben ärmlichen Häuser, dieselbe Armut. Nichtsdestotrotz ist die Auslegung der zwei Textarten, die sehr ähnlich sind, komplett unterschiedlich. Golescu und die Mehrheit der ausländischen Reisenden begründen diese Wohnart mit der harten Ausbeutung der Bauern durch die Steuerbehörden. Golescus Text bringt nur Bedauern und Mitleid gegenüber ‚dem Schicksal dieser Geschöpfe Gottes‘ zum Ausdruck. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnen die Ärzte im Westen zu studieren und werden von der Religion nicht mehr so stark beeinflusst. Diese sprechen nicht mehr von Gottes Geschöpfen, sondern von primitiven Menschen. Dem Arzt Istrati zufolge wohnten die Bauern seiner Zeit in unhygienischen, primitiven Häusern und unter Bedingungen, von denen ‚in bestimmten Fällen mit Gewissheit gesagt werden kann, dass sie kaum einen Fortschritt seit vorgeschichtlichen Zeiten zeigen‘. Damit wollte Istrati andeuten, dass die Bauern seiner Zeit immer noch in prähistorischen Zeiten leben, woher auch ihre Lehmhütten stammen würden.“



    Für die sozialen Reformierer und für die Ärzte um das Jahr 1900 waren die Lehmhütten eine Schande für Rumänien. Die neuen Urbanisierungsgesetze und –regelungen sollten diese Schande verschwinden lassen. Das oberirdische Haus, das von den Bauern als minderwertig und billiger im Vergleich zur traditionellen Lehmhütte angesehen wurde, setzt sich aber immer mehr durch. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, stellten die alten, in der Erde halbversunkenen Lehmhütten nur noch 10% aller ländlichen Behausungen dar.



  • Die Anfänge des modernen Beamtenstandes in den Donaufürstentümern

    Die Anfänge des modernen Beamtenstandes in den Donaufürstentümern

    In den rumänischen Donaufürstentümern wurden mit den sogenannten Organischen Reglements von 1831 und 1832 die Ideen der Romantik zum ersten Mal umgesetzt. Die mit modernen Grundgesetzen zu vergleichenden Reglements wurden in der Amtszeit des russischen Gouverneurs Pawel Kisseljow (Pavel Kiseleff) durchgesetzt. Die wichtigsten Anordnungen betrafen das politische Leben: die Gewaltenteilung, die Fürsten-Wahl, die Wahl der Parlamentskammern und die Zuständigkeiten jeder Behörde. Damals wurden aber auch die Grundsteine der Bürokratie, der öffentlichen Ämter und deren Besetzung gelegt.



    Die Historikerin Constanţa Vintilă-Ghiţulescu vom Geschichtsforschungsinstitut Nicolae Iorga“ in Bukarest ist der Auffassung, dass die Organischen Reglements und das Inkrafttreten derselben den Beginn der Demokratisierung des rumänischen Raumes darstellt. Die Reglements sahen die Besetzung eines Amtes nur aufgrund persönlicher Fähigkeiten vor. Die Idee eines Nationalstaates und die Teilnahme an öffentlichen Entscheidungen entfachte Begeisterung bei den Rumänen. Doch die angekündigten Kriterien wurden in der Praxis oftmals nicht eingehalten. Die Historikerin Constanţa Vintilă-Ghiţulescu erläutert, bis Mitte des 19. Jahrhunderts habe die Tradition der Amtsvererbung noch stark nachgewirkt:



    In der Anfangsperiode der Moderne hatten Adelsfamilien, die dem Fürsten nahestanden, nach wie vor das Monopol über die wichtigsten Ämter im Staat. Was die kleineren Ämter in den Kanzleien anbelangt, bildet sich eine Bürokratie heraus und die Idee, Staatsangestellter zu werden, wird fast zum Traum eines jeden Rumänen. Warum? Weil in dieser Epoche auch das Konzept der Verbeamtung auf Zeit und der Rente erscheint. Nach 8 Jahren Beamtenzeit konnte man eine Rente bekommen, die im Todesfall von der Witwe beansprucht werden konnte. Zudem trug man eine Uniform und man bekam Zuschüsse für Berufskleidung. Es entstand eine Beamten-Klasse, die der Schriftsteller Ion Ghica in seinen Werken beschrieb. Dieser beklagt in einem seiner Briefe, dass die Rumänen diesen Ämtern im Staatsapparat hinterher laufen würden. Es gebe keine Schuster, Schneider, Handwerker mehr, die die kleinen unentbehrlichen Arbeiten durchführen.“



    Allein mit Enthusiasmus über Freiheit und Emanzipation konnte man am Anfang die jahrhundertalten Mentalitäten nicht einfach auslöschen. Constanţa Vintilă-Ghiţulescu sieht darin die grö‎ßte Herausforderung für die Staatsreformer von damals:



    Am Anfang der Moderne spielten die Beziehungen eine gro‎ße Rolle. Wenn jemand der Gefolgschaft eines wichtigen Bojaren angehörte, zum Beispiel Grigore Brâncoveanus, und dieser Bojar ein wichtiges Amt übernahm, also etwa zum Minister ernannt wurde, dann wurden alle um ihn unter seiner Obhut angestellt, seine gesamte Klientel zog sozusagen mit ihm ins Amt. Beispielsweise wurden alle Bedienstetenvorsteher eines Bojarenhofs zu Kanzleischreibern, insofern sie des Lesens und Schreibens kundig waren. Oder sie wurden zu Polizeiwachtmeistern in den umliegenden Dörfern. Ohne »Stützen«, wie der Gelehrte und Adelige Iordache Golescu damals schrieb, konnte man nicht im Staatsapparat arbeiten. Die Auswahl der Beamten erfolgte recht klüngelhaft und es gab oft Fälle von Amtsmissbrauch. Und wir dürfen uns nicht vorstellen, dass es strenge Strafen dafür gab. Manche wurden gefeuert, wenn man sah, dass sie ihre Pflichten nicht erfüllten. Doch der Schutzherr sorgte nicht selten dafür, dass ihnen verziehen wurde, und sie bekamen ihre Stelle zurück.“



    Die allmähliche Demokratisierung des Zugangs zu öffentlichen Ämtern brachte auch soziale Änderungen mit sich. Constanţa Vintilă-Ghiţulescu:



    Am Anfang des 19. Jahrhunderts fühlten sich die Gro‎ßgrundbesitzer, die wichtige Ämter im Staat bekleideten, von diesem neuen Beamtenstand bedroht. Diese neuen Beamten schafften es, Teil der Entourage des Fürsten zu werden, was ihnen auch den sozialen Aufstieg in den Bojarenstand ermöglichte. Sie heirateten Bojaren-Töchter und kauften Ländereien. Dadurch glaubten sie, ein Anrecht auf wichtige Ämter im Staat zu haben. Die Bojaren aus traditionsreichen, alten Familien wie die Brâncoveanus, Golescus, Balş, Rosettis fühlten sich durch die sozialen Emporkömmlinge bedroht und bezeichneten sie als Parvenüs.“



    Der Werdegang der rumänischen Demokratie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete eine komplizierte Verflechtung der westlichen Modernisierungsideen und der neuen Institutionen mit lokalen Mentalitäten und persönlichen Strebungen. Die Ergebnisse waren nicht immer die erwünschten, sie trugen aber wesentlich zum Zeitgeist der anfänglichen Moderne in den Donaufürstentümern bei.



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