Jedes Jahr lockt das Nationale Theater Radu Stanca“ sein Publikum mit vielen Premieren an; viele davon sind in Zusammenarbeit mit der Theaterhochschule in Sibiu/Hermannstadt entstanden. Ende März dieses Jahres wurden acht der neuesten Produktionen in einer Minispielzeit aufgeführt, um das Hermannstädter Theater bei den Fachkritikern, den Journalisten und den Theaterliebhabern im ganzen Land bekannter zu machen.
Bertolt Brechts Stück Der gute Mensch von Sezuan“ in der Regie von Anca Bradu ist eine der Premieren dieser Spielzeit. Die Aufführung wirft eine wichtige Frage auf, die gerade heutzutage aktueller als je zuvor scheint: Was bedeutet es, gut zu sein? In einer Welt die von Armut, Korruption, Vulgarität und Gewalt beherrscht wird, wählen drei Götter, die auf der Suche des lebensbewahrenden Guten sind, eine Prostituierte aus, die die Welt heilen sollte. Diana Fufezan, eine der beliebtesten Schauspielerinnen des Hermannstädter Nationaltheaters, spielt die Hauptrolle Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan“:
Bei der Arbeit mit diesem Text von Bertolt Brecht sind mir sehr viele Fragen in den Sinn gekommen. Die wichtigsten Fragen waren: Was bedeutet es, gut zu sein? Warum vollbringt man gute Taten? Weil es einfach so getan wird? Weil es von einem verlangt wird? Weil man es so fühlt? Sollte man gute Taten vollbringen, auch wenn es einem sehr schlecht geht, damit es den anderen besser gehen sollte? Sollte man aus dem Wenigen, das man besitzt, auch den anderen etwas schenken, damit sie weiterleben können? Sollte man gutmütig bleiben, auch wenn die anderen einen schlecht behandeln? Das ist wirklich eine große, wichtige Frage: Was bedeutet es, gut zu sein, gut zu bleiben?“
Diana Fufezan ist mit dem Publikum in Sibiu/Hermannstadt vertraut; daher fragten wir sie, ob das Publikum sich für ein so schwerwiegendes Thema interessieren würde:
Es ist in Ordnung, ins Theater zu kommen, um sich zu entspannen, um eine angenehme Zeit zu haben. Das ist wunderbar, ich liebe Komödien. Ich finde es aber auch sehr gut, wenn man den Mut hat, sich selbst gewisse Fragen zu stellen. Es ist gut, wenn man am späten Abend, nach der Theateraufführung, Antworten auf diese Fragen sucht. Man kann Antworten darauf finden, oder wiederum nicht, aber ich finde es gut, dass man sich darüber Gedanken macht. Das Hermannstädter Publikum ist wundervoll, ich sage das, weil ich die Reaktionen der Zuschauer im Theater kenne. Bei jeder Aufführung werden wir Schauspieler mit derselben Liebe empfangen — jedes Mal fühle ich mich glücklich und ich möchte unseren Zuschauern aus ganzem Herzen dafür danken. Das Publikum ist uns treu geblieben, die Leute kommen zu allen Aufführungen, egal wie verschieden die Stücke sind. Unsere Zuschauer lieben die Diversität und kommen immer wieder ins Theater. Vor allem in dieser Zeit, die wir heutzutage in Rumänien erleben, sind die Themen über die Suche nach dem Guten in »Der gute Mensch von Sezuan« höchst aktuell.“
Das Gute, die Religion, die Art und Weise, wie wir heute auf das Gute und die Religion beziehen, kommen zur Debatte in der Aufführung mit dem Stück 10“ von Csaba Székely, Regie Radu Nica, einer Produktion im Rahmen des europäischen Projekts Be SpectACTive!“. Basierend auf den 10 Geboten des Alten Testaments werden 10 Geschichten der Gegenwart auf der Bühne dargeboten. Darüber sagte der Autor Csaba Székely: Das Stück präsentiert Menschen in gewöhnlichen Lebenssituationen, aber auch unter außergewöhnlichen Umständen. Jede moralische Entscheidung, die zu einem gewissen Zeitpunkt von einer Person getroffen wird, hat eine starke Wirkung auf das Leben der nächsten Person.“ Der Regisseur Radu Nica befasst sich seit längerer Zeit mit dem Thema Religion:
Mit dieser Aufführung wollte ich erreichen, dass jeder von uns seine Beziehung zur Religion überdenkt. Das Thema Religion ist zurzeit in Rumänien höchst aktuell — in Bukarest wird die große »Volksläuterungskathedrale« errichtet, in die Schulen soll Religion als Pflichtfach eingeführt werden. Ich hoffe, dass die Aufführung mit dem Stück »10« das Publikum bewegt und wachrüttelt. Mein Wunsch ist, dass die Menschen darüber nachdenken, inwieweit die zehn Gebote des Alten Testaments noch einen Bezug zu unserem heutigen Leben haben. Meiner Meinung nach ist diese Aufführung für das rumänische Publikum von großem Interesse und sie könnte auch für das ausländische Publikum sehr interessant werden. Das ist eine Freske der rumänischen Gesellschaft von heute, betrachtet durch die Linse der 10 Gebote des Alten Testaments.“
In der Minispielzeit des Hermannstädter Nationaltheaters hat der junge Regisseur Botond Nagy das Publikum zu einer technopoetischen Installation“ mit dem Stück Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen eingeladen. Hedda Gabler ist für den Regisseur eine der schönsten, komplexesten, menschlichsten Theaterfiguren. Über die Themen, die er mit dieser einzigartigen Aufführung den Zuschauern vorschlägt, sagte der Regisseur Botond Nagy:
Wir befinden uns in einer glücklichen Situation, da Henrik Ibsen sehr viele Themen anbietet. Abgesehen von der Angst und der Manipulation, die im gesamten Text zu verspüren sind, haben wir in »Hedda Gabler« ein weiteres hochaktuelles Thema: der Finanzdruck, der in allen Stücken von Henrik Ibsen präsent ist. Hier wird dieser Finanzdruck von der Figur Jørgen Tesman verkörpert. Die Liebe ist auch ein wichtiges Thema bei Henrik Ibsen; der schwedische Dramatiker hatte selbst ein hochbewegtes Liebesleben, und das wird in der Beziehung zwischen Hedda Gabler und Ejlert Løvborg wiedergegeben. Auch für mich war das eine besondere, sehr persönliche Beziehung — das war irgendwie mein Startpunkt. Am wichtigsten war aber in meine Inszenierung die Beziehung des Menschen mit der Welt — wir wissen nicht genau, wo wir uns befinden, was wir tun, wohin wir gehen. Die gesamte Welt ist ein Chaos, und ich weiß nicht, wann wir Klarheit gewinnen werden. Vielleicht wird uns die Welt, in der wir leben, niemals vollkommen klar. Und vielleicht ist das nicht unbedingt ein Problem.“