Tag: Balkan-Western

  • Historischer Balkan-Western „Aferim!“ sieht es auf einen Oscar ab

    Historischer Balkan-Western „Aferim!“ sieht es auf einen Oscar ab

    Auf der Berlinale im Februar 2015 gewann Radu Jude einen Silbernen Bären für die Regie von Aferim!“ — jetzt hofft das Team, dass sein Film für die Oscars 2016 nominiert wird. Und nach den Kommentaren in der Fachpresse zu urteilen, ist etwas dran an dieser Idee: Der vollkommenste und originellste Film, den Radu Jude bisher gemacht hat“, preist Variety den Film, der bei Journalisten als Balkan-Western gilt. Variety gefiel die Regie von Radu Jude, aber auch das Drehbuch, das er zusammen mit Florin Lăzărescu schrieb und das die Vorurteile des frühen 19. Jahrhunderts sehr gut auf die Leinwand transportiert. Die Zeitschrift lobt die schauspielerische Leistung der Darsteller — besonders von Toma Cuzin — und das sehr anspruchsvolle Schwarz-Wei‎ß-Bild von Marius Panduru.



    Auch The Hollywood Reporter zeigte sich beeindruckt von dem aktuellen Thema und dem humorvollen Umgang des Drehbuchs mit solchen Fragen. Der heute gegen osteuropäische Roma gerichtete Rassismus hat in den letzten Jahren mehrere ausdrucksvolle Produktionen inspiriert. »Aferim!« aber packt das aktuelle Übel an der Wurzel an; Radu Jude und sein Drehbuchpartner und Schriftsteller Florin Lăzărescu gehen von den echten Erfahrungen von Romasklaven aus. Aber wichtiger ist, dass sie sich diesem negativ besetzen Thema auf ganz persönliche Weise humorvoll nähern, ohne dass der Film zu einer realsozialistischen Moralpredigt ausartet“, so die Kritiker vom Hollywood Reporter.



    Auf jeden Fall ist der Film eine der ambitioniertesten Kinoproduktionen der letzten Jahre. Die Handlung spielt etwa 1835 in der Walachei, als Zigeuner noch versklavt waren. Ein von Teodor Corban gespielter Häscher und dessen Sohn (Mihai Comănoiu) spüren einem geflüchteten Sklaven nach; ihr Weg führt über staubige Landwege, durch verkommene Dörfer und pittoreske Jahrmärkte. Aferim!“ wurde in der Dobrudscha, in den Măcin-Bergen und im Umkreis von Giurgiu gedreht, das Budget erreichte 1,4 Millionen Euro. Die Kulisse musste rekonstruiert werden, um den damals vorherrschenden türkischen Einfluss wahrheitsgetreu wiederzugeben. Selbst der Titel steht unter diesem Einfluss — Aferim!“ hei‎ßt soviel wie Bravo“.





    Die Sprachwissenschaftlerin Constanţa Vintilă-Ghiţulescu, mit dem sich das Autorenteam konstant beraten musste, zitiert süffisant den Filmdialog: Diese Frage haben sie sich hier jahrhundertelang gestellt — sind die Zigeuner Menschen oder nicht und woher kommen sie überhaupt? Das war mitten im 19. Jahrhundert eine wichtige Identitätsfrage.“ Für den Regisseur Radu Jude ist es wichtig, dass jede Gesellschaft sich periodisch auf die mehr oder weniger unerfreulichen Momente seiner Geschichte besinnt.



    Der Film ist nicht nur über die Sklavenhaltung, aber weil das so selten thematisiert wurde, sticht es um so mehr ins Auge. Der Film behandelt viele Themen: den Umgang mit Frauen, den Stellenwert der Religion, die Übertragung von Gedankengut, Toleranz. Ich wollte mit dem Film vermitteln, dass ein gesellschaftliches Phänomen, aber auch eine persönliche Geschichte einen Ursprung haben, der näher oder ferner in der Vergangenheit liegt. Wir vergessen das oft, weil es uns schwer fällt, Verantwortung zu übernehmen. Es passiert mit der Gesellschaft, was Freud über das Individuum sagt: Was wir verdrängen, kommt wieder auf.“



    Auch der in Rumänien viel gelesene Kritiker Andrei Gorzo vermutet, dass Aferim!“ zu einem Klassiker der rumänischen Filmgeschichte taugt und einen pointierten Beitrag zur aktuellen Diskussion leistet. Es ist seit 2010 der wichtigste Film in Rumänien. Radu Jude (Jahrgang 1977) katapultiert sein somit dritter Spielfilm sehr nahe an die Spitzenposition der wichtigsten zeitgenössischen Kinoschaffenden“, schreibt Gorzo.




  • Nach Erfolg mit Balkan-Western „Aferim!“: Gespräch mit Produzentin Ada Solomon

    Nach Erfolg mit Balkan-Western „Aferim!“: Gespräch mit Produzentin Ada Solomon

    Eine Bestätigung für ihren Mut“ sei der Preis gewesen. Damit meinte die Produzentin Ada Solomon den Silbernen Bären für die beste Regie, mit dem der Balkan-Western Aferim!“ in Berlin ausgezeichnet wurde. Und natürlich den Filmemacher Radu Jude, mit dem sie das besonders komplexe“ Filmprojekt zu einem guten Ende führen konnte.



    Aferim!“ gilt bereits jetzt als eines der umfassendsten rumänischen Filmprojekte der letzten Jahre. Die Handlung des historischen Streifens spielt sich Anfang des 19. Jahrhunderts ab, als die Roma in Rumänien als Sklaven gehalten wurden. Teodor Corban spielt einen Landjäger, der sich mit seinem Sohn (Mihai Comănoiu) auf die Suche nach einem entlaufenen Roma (gespielt von Cuzin Toma) begibt.



    Die Dreharbeiten zu Aferim!“ fanden in der ostrumänischen Dobrudscha, im Măcin-Gebirge sowie im südrumänischen Giurgiu statt. Die Produktionskosten beliefen sich auf 1,4 Millionen Euro, die meisten Filmkulissen wurden für die Veranschaulichung türkischer Einflüsse nachgebaut. Überhaupt sei der Spielfilm Aferim!“, der im März seine Kinopremiere in Rumänien hatte, das komplexeste Projekt ihrer Produzentenkarriere, sagt Ada Solomon.



    »Aferim!« ist der Film mit dem grö‎ßten logistischen Aufwand von all meinen bisherigen Projekten. Es ist ein historischer Film, mit sehr vielen Statisten, bei dem fast 70% der Kulissen nachgebaut wurden… und die bereits existierenden Kulissen mussten angepasst werden. Darüber hinaus besteht die Komplexität dieses Films auch darin, dass das Drehbuch eine ganze Reihe von sozialen Themen behandelt. Es ist ein Film, der sich auf sehr wertvolle historische Quellen beruft, die jedenfalls bislang noch nie visuell erforscht worden waren. Das Drehbuch basiert auf der Volksliteratur und der Belletristik des 19. Jahrhunderts, es sind Literatur-Fragmente, denen der Film neues Leben einhaucht. All das macht »Aferim!« zu einem bedeutenden Film, nicht nur für mich, sondern für das rumänische Kino im Allgemeinen.“




    Der bekannte Kritiker Andrei Gorzo spricht in seiner Kolumne von dem wichtigsten rumänischen Film seit 2010“ — in Anlehnung an das Jahr der Premieren von Die Autobiographie von Nicolae Ceauşescu“, unter der Regie von Andrei Ujică, und Aurora“, unter der Regie von Cristi Puiu. Aferim!“ sei ein Kunstwerk, das in Zukunft zu den Klassikern des rumänischen Kinos gezählt werden wird… ein relevanter Eingriff in die Agenda der öffentlichen Debatten unserer Zeit“, so Gorzo. Dabei habe man sich nicht genau das vorgenommen, berichtet die Produzentin Ada Solomon:



    Ich glaube nicht, dass der Künstler sich etwas vornimmt, dass er nach einem bestimmten Programm arbeitet. Der Künstler geht nach seinem Gefühl vor, nach seiner Stimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist die Aufgabe der Kritiker, Filme einzuordnen, sie zu vergleichen, Werturteile abzugeben. Das, was über den Film gesagt wurde, ehrt uns zutiefst, und ich bin überwältigt von dem Ausma‎ß der Reaktion in Rumänien. Ich habe mir gewünscht, dass der Film auf Interesse stö‎ßt und gute Kritiken erhält, aber ich habe mir nicht vorgestellt, dass das Interesse so gro‎ß sein wird, dass man soviel darüber schreiben und dass er so tiefgründig untersucht werden wird. Für mich bleibt die Weitergabe der Lehren von Vater zu Sohn der Hauptbestandteil dieses Films… und irgendwie ist das auch ein Verbindungselement im Werk von Radu Jude, denn alle seine Filme haben Familienbeziehungen, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in ihrem Mittelpunkt. Und dieser Film kommt als natürliche Fortsetzung. Auch wenn die Handlung in eine vergangene Zeit, in eine andere Kulisse platziert wurde, erzählt der Film vor allen Dingen die Geschichte der Beziehung zwischen Ioniţă und Costandin.“




    Ada Solomon machte bei den wichtigsten Filmen von Radu Jude als Produzentin mit: etwa bei Lampe mit Hut“ (2006), dem erfolgreichsten Kurzfilm in der Geschichte des rumänischen Kinos. Der Streifen wurde mit über 50 Auszeichnungen bei internationalen Festivals belohnt, darunter bei Sundance, in San Francisco, Los Angeles und Uppsala. Auch für seinen Kurzspielfilm Alexandra“ erhielt Radu Jude im Jahr darauf wichtige Filmpreise wie den Hauptpreis der Kurzfilmtage Oberhausen. Wie ihre Beziehung zum Regisseur überhaupt zustande kam, wollten wir von der Produzentin Ada Solomon wissen.



    Ich wei‎ß nicht, ob ich Radu gewählt habe oder ob wir uns gegenseitig füreinander entschieden haben. Ich glaube, es beruht auf Gegenseitigkeit, ich bin sehr glücklich darüber, dass Radu mir vertraut hat und mich für die richtige Person hielt, die ihm dabei helfen kann, seine Ideen durchzusetzen. Unsere Beziehung hat sich mit der Zeit ergeben, dabei haben wir uns gegenseitig unterstützt, denn das ist keine Einbahnstra‎ße. Was mich an Radu fasziniert, ist seine Weitwinkel-Perspektive. Denn die Elemente in seinen Filmen sind stets begründet, sie haben stets mehr Wurzeln als auf den ersten Blick, das Fundament ist folglich sehr solide. Ich habe sehr viel von Radu gelernt, der Dialog und der Gedankenaustausch mit ihm ist immer ein Vergnügen, auch wenn wir uns nicht immer einig sind. Der Austausch erzeugt eine Art Attitüdenübung — und daran bin ich sehr interessiert. Alle Filme von Radu sind auch Beispiele von Verhaltensweisen. Es sind nicht nur einfache Kunstwerke, sie sagen mehr aus, sie werfen eine ganze Reihe von Fragen auf. Und ihr Verdienst ist es ferner, dass sie keine Werturteile abgeben, keine endgültigen Schlüsse ziehen, sie lassen die Dinge offen.“




    Es sei zwar unmöglich, die Vorurteile gegenüber den Roma abzubauen, dennoch sei sie sehr zufrieden über die unzähligen Reaktionen auf den Film Aferim!“, so Ada Solomon:



    Es war für mich herausragend, zu beobachten, dass Menschen aus allen möglichen Schichten sich mit dem Film aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. Egal ob ihnen die politische Herangehensweise oder die soziale Betrachtung wichtig war, der Film hat offenbar nicht nur Menschen aus der Filmwelt angezogen. Ich finde es interessant, dass viele Politikexperten auf den Film reagiert haben, auch in sozio-anthropologischer Sicht ist der Film ein sehr gutes Forschungsinstrument, er kann Debatten und Denkanstö‎ße auslösen über die Frage, wer wir sind und woher wir kommen und wie wir sind. Ich habe mich intensiv mit der Haltung der Mehrheit gegenüber der Minderheit beschäftigt, es ist weniger wichtig, ob es die Roma-Minderheit oder die jüdische Minderheit ist. Im Falle der Roma-Minderheit ist es normal, dass ihre 500-jährige Versklavung Spuren hinterlassen hat, es ist normal, dass die Minderheit sich nicht traut, die Erniedrigungen der Vergangenheit hinter sich zu lassen.




    Ada Solomon hat bereits in der Vergangenheit bei mehreren Filmprojekten mitgewirkt, die vielfach ausgezeichnet wurden. Etwa bei Cristian Nemescus Kurzfilm Marilena aus P7“, den Debütwerken von Răzvan Rădulescu (Allen voran Felicia“), Paul Negoescu (Einen Monat in Thailand“), Vali Hotea (Roxanne“) sowie den Dokumentarfilmen von Alexandru Solomon (Kapitalismus, unser Geheimrezept“, Cold Waves — Krieg auf den Wellenlängen“). 2013 wurde Ada Solomon mit dem Eurimages-Preis für Koproduzenten ausgezeichnet — dem Preis, mit dem die Europäische Film-Akademie die Bedeutung der Koproduktionen für die europäische Filmindustrie anerkennt. Au‎ßerdem ist Solomon Mitbegründerin und Direktorin des Internationalen Filmfestivals Next“ in Bukarest, des grö‎ßten Kurzfilm-Festivals in Rumänien, das den verstorbenen Filmemachern Cristian Nemescu und Andrei Toncu gedenkt.