Tag: Elektrifizierung

  • Elektrifizierung nach dem Krieg: parteipolitisches Prestige-Projekt

    Elektrifizierung nach dem Krieg: parteipolitisches Prestige-Projekt

    Licht war seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Leitmotiv aller Modernisierungsprojekte. So konnten, nach Ansicht der Sozialreformer, die Menschen der Unwissenheit entrinnen, in der sie Religion und Kirche hielten. Aus diesem Grund wurde das 18. Jahrhundert auch als Jahrhundert der Lichter“ bezeichnet. Das Licht wäre geistiger Natur gewesen — entstanden durch Bücher und Erziehung und durch die Beseitigung des Analphabetismus. Im 19. Jahrhundert übernahmen modernisierende Ideen das Motiv des Lichts. Sie fügten die materielle Dimension hinzu, die mit Hilfe der Wissenschaft den Menschen Zugang zu Wissen verschaffen würde. Und elektrisches Licht galt als der grö‎ßte Fortschritt in der Geschichte, denn Edisons Glühlampe hat die Welt radikal verändert.



    Die Kommunisten betrachteten die Elektrifizierung als eines der Mittel, mit denen der neue Mensch“ auf eine höhere Stufe steigt. Eines von Lenins Mottos lautete Macht in den Händen von Sowjets und Elektrifizierung der Dörfer“. Als es am 6. März 1945 in Rumänien die Macht ergriff, machte das kommunistische Regime aus der Elektrifizierung ein Ziel, das ihm Popularität und Legitimität verschaffen sollte. Das ehrgeizige Wirtschafts- und Sozialprogramm, die Elektrifizierung Rumäniens, hatte eine wichtige politische Komponente, die seit den 1950er Jahren in die Praxis umgesetzt wurde.



    Der Ingenieur Tudor Constantin war der Leiter des Bukarester Elektrizitätswerks, des grö‎ßten Stromerzeugers. Im Jahr 2003 wurde er vom Zentrum für Mündliche Geschichte des rumänischen Rundfunks interviewt. Er erinnerte sich an das erste Wasserkraftwerk in Bicaz.



    Das ursprüngliche Projekt wurde von Professor Dorin Pavel und dem Ingenieur Dimitrie Leonida auf ihren Kosten erstellt, sozusagen huckepack. Leonida wollte den rumänischen Arbeiter in einen gebildeten Arbeiter umwandeln, zum angesehenen Arbeiter machen. Er gründete eine Schule, die den Namen »Ingenieur Leonidas Fachschule für Elektriker und Mechaniker« trug. Hier unterrichtete er mit seiner Frau und zwei Professoren von der technischen Universität. Und du kamst mit einer solchen Ausbildung raus, dass dich das Gas- und Elektrizitäts-Unternehmen oder die Bahngesellschaft CFR gleich einstellten. Du musstest nur sagen, dass du Leonidas Schule besucht hattest. Als das Elektrifizierungsprojekt begann, war ich im Werk. Ingenieur Leonida sagte mir: ‚Junger Mann, eines musst du wissen: Rumänien kann nicht ohne die Einbindung des Staates elektrifiziert werden — ähnlich haben die Russen ihr Land elektrifiziert.‘ Nachdem dieser Elektrifizierungsplan beendet wurde, bekam ich eine Auszeichnung, so war es damals. Ich wurde mit dem Arbeitsorden 2. Klasse ausgezeichnet, den habe ich auch heute noch.“




    Die Folgen des Krieges mussten beseitigt werden und das konnte nur durch industrielle Entwicklung erreicht werden. Tudor Constantin kannte den Entwicklungsstand Rumäniens vor der Elektrifizierung.



    Die Elektrifizierung begann 1950, als ich schon im Kraftwerk war, ich leitete das Kraftwerk. Das Bukarester Kraftwerk war das grö‎ßte des Landes und hatte die besten Ingenieure. Es war vielleicht nicht auf dem Stand der westlichen Technik, aber auf jeden Fall arbeiteten da noch die Vorkriegs-Energetiker und sie wählten keine schlechten Ausrüstungen. Das Filaret-Werk verfügte über 5000 PS-Dieselmotoren, einzigartig in Europa, als sie eingekauft wurden. Eine einzigartige 10.000-Kilowatt-Gasturbine war bereits vor dem Krieg gekauft worden. Aber sie wurde erst nach dem Krieg montiert. Ich erinnere mich, dass die Russen uns umgarnten und um Hilfe baten. Ich gab ihnen die Schlüssel vom Büro, in dem die Schweizer Pläne aufbewahrt wurden, sie kupferten hin und wieder davon ab. Wir machten das natürlich genauso, aber wir mussten ja die Turbine in Betrieb nehmen. Es gab eben auch solche Geschichten.“




    Über die ökonomische und soziale Logik hinaus konnte die Gestaltung und Umsetzung eines Projekts dieser Grö‎ßenordnung nur nach einer politischen Entscheidung möglich sein. In einer Planwirtschaft musste alles möglich sein. Tudor Constantin berichtet weiter:



    Die Partei hat diese Entscheidung getroffen, und dann wurde diese Entscheidung von Spezialisten in Ministerien und allen Werken hinsichtlich der Umsetzung bearbeitet. Ich wurde um eine Meinung gebeten, ich habe an der Erstellung des Elektrifizierungsplans teilgenommen, weil ich der erste Kraftwerksleiter war. Und ich erinnere mich, dass es zwischen den Thermotechnikern und den Hydrotechnikern einen gro‎ßen Streit gab. Die Streitigkeiten betrafen den Beginn, mit welchem Kraftwerks-Typ sollte man anfangen? Letztendlich gab es eine Schlichtung durch die Parteiführung. Es wurde gesagt, dass Wasserkraftwerke billiger und wirtschaftlicher seien. Die Stromkosten des Wasserkraftwerks waren drei- bis viermal niedriger als die des Wärmekraftwerks. Aber es wurde auch gesagt, dass die Wasserkraftwerke eine lange Bauzeit hatten und dass das Land nicht so lange warten kann. Wir mussten die Industrie des Landes entwickeln und wir mussten, auch wenn es uns mehr kostete, Wärmekraftwerke bauen. Schlie‎ßlich hat man mit dem Bau von Wärmekraftwerken angefangen, dann begann der Bau des Wasserkraftwerks in Bicaz. Aber die Energie-Erzeugung fing mit den Wärmekraftwerken in Doiceşti in der Moldau und in Târgu Mureş an.“




    Die Elektrifizierung Rumäniens endete in den 1970er Jahren und wurde als Erfolg gewertet. Der Energiesektor hat sich später diversifiziert, wobei ein Gro‎ßteil der Produktion in der Industrie verbraucht wurde.

  • Armutsbekämpfung: bescheidene Fortschritte, widersprüchliche Statistiken

    Armutsbekämpfung: bescheidene Fortschritte, widersprüchliche Statistiken

    10 Jahre nach dem EU-Beitritt Rumäniens werden wie am Flie‎ßband Bilanzen gezogen. Laut Statistiken hat Rumänien in Sachen Armutsbekämpfung erhebliche Fortschritte verzeichnet. Lebten 2007 noch 47% der Rumänen unter der Armutsgrenze, so waren 2015 nur noch 37% der Bürger davon betroffen. Die sogenannte AROPE-Kennzahl dient der Berechnung in diesem Fall, in die sowohl die Jahreseinkommen als auch die eigenen Güter flie‎ßen. Doch der Schein trügt teilweise, wie wir von unseren Gesprächspartnern erfahren werden.



    Die verbesserte Armutsstatistik bedeutet, dass sich immer mehr Rumänen in den letzten Jahren elektronische Haushaltsgeräte und Handys leisten konnten sowie alle zwei Tage mindestens ein Fleischgericht essen oder einmal im Jahr in Urlaub fahren. Die Rumänien-Vertretung der Friedrich Ebert“-Stiftung untersuchte im Rahmen eines Projekts die Zahlen seit dem EU-Beitritt des Landes. Dabei sei die Organisation zu eigenen Schlussfolgerungen in Sachen Armut gekommen, erzählt die Programmdirektorin Victoria Stoiciu.



    Es ist offensichtlich, dass heute viel mehr Menschen ein Handy und einen Farbfernseher besitzen als 2007. Einerseits sind derartige Artikel billiger geworden und andererseits werden den Verbrauchern viel einfacher Kredite gewährt. Wenn wir also diese Kennzahl betrachten, kann davon ausgegangen werden, dass die Armut zwischen 2007 und 2015 erheblich gesunken ist und es den Rumänen besser geht.“




    Andererseits lässt sich aus der Erhebung auch eine widersprüchliche Aussage ableiten: Auch wenn sich die Missstände im Allgemeinen verringert haben, ist die Not in bestimmten Fällen grö‎ßer. Wenn nur die Einkommen betrachtet würden, das hei‎ßt ausschlie‎ßlich das Geld, über das die Menschen verfügen, dann würde man überrascht feststellen müssen, dass die Armut weiter zugenommen hat. Genauer gesagt ist die Anzahl der Personen gestiegen, deren Einkommen um 60% weniger als der Landesdurchschnitt betragen. 2015 machte diese Kategorie knapp 25% der Gesamtbevölkerung aus, während ihr Anteil 2007 noch 18% betragen hatte. Victoria Stoiciu von der Friedrich Ebert“-Stiftung ergänzt:



    Die ärmsten 10% der rumänischen Bevölkerung leben nach wie vor in ländlichen Gebieten. Es sind generell Menschen, die eine Subsistenz-Landwirtschaft betreiben. Auf diesem Gebiet ist überhaupt kein Fortschritt verzeichnet worden. 2007 verdienten die ärmsten 10% der Rumänen 556 Euro im Jahr. Und damit sind Einkommen gemeint, keine Gehälter oder Löhne, also Verdienste, die auch aus dem Verkauf kleiner Eigenerzeugnisse erzielt werden können, etwa Eier, Käse usw. 2015 erreichten die Einkommen der Ärmsten 714 Euro im Jahr, also eine unerhebliche Verbesserung. Geschätzte 2 Millionen Rumänen leben von 714 Euro im Jahr.“




    Über die Mängel der auf dem Lande und vor allem über die in Bergregionen lebenden Menschen wollten wir uns mit Iulian Angheluţă unterhalten. Seine Stiftung Free Mioriţa“ hat sich seit Jahren im Rahmen eines Projekts einem ehrgeizigen Ziel verpflichtet: die letzten nicht elektrifizierten Gemeinden Rumäniens mit Strom zu versorgen. Diese Regionen sind noch recht zahlreich, und am härtesten getroffen sind die isolierten Gemeinden und Weiler in den Bergen. Von Iulian Angeluţă wollten wir als erstes wissen, wie der Alltag in den entsprechenden Regionen derzeit aussieht.



    Dort sind einige Waldwege. Es gibt Wasserquellen, es flie‎ßt dort Quellwasser aus den Bergen. Aber Elektrizität gibt es keine. Fast überall im Apuseni-Gebirge in den Westkarpaten, im Hochland um Hunedoara, in der Maramuresch und um Bistritz, dort sieht man kaum Überlandleitungen. Es gibt nur Pläne und sogenannte Machbarkeitsstudien. Darüber hinaus fehlen an vielen Orten die obligatorischen Anhaltspunkte einer zivilisierten Gesellschaft — etwa Schulen oder Krankenhäuser. Die Menschen kommen mit ihrer Subsistenz-Landwirtschaft über die Runden. Ein jeder hat Tiere auf seinem Hof, vor allem Schafe und Kühe. Aus dem Wald in der Nähe wird das Holz für die Heizung besorgt, und dort pflücken die Einwohner unterschiedliche Früchte und Pilze.“




    Der Anschluss an das Stromnetz würde für diese Menschen ein Mindestkomfort bedeuten, aber auch die Möglichkeit, der Isolation zu entkommen. Einige von ihnen haben das elektrische Licht dank der Photovoltaik- oder Solarstromanlagen erblickt. Iulian Angheluţă und seine Kollegen von Free Mioriţa“ haben die notwendigen Spenden dafür gesammelt. Es seien vor allem die Kinder in den isolierten Gemeinschaften, denen sie mit ihrer Aktion helfen wollten.



    Jeder Haushalt braucht Arbeitskräfte. Ob wir es mögen oder nicht, Kinder werden im Haushalt eingesetzt. Sie gehen mit den Schafen auf die Weiden oder sie helfen ihren Eltern bei anderen Aktivitäten. Sie haben ein sehr schweres Leben, die Bildung bleibt im Hintergrund. Deshalb scheint mir die Elektrizität wichtig. Sie ist wichtig für die Kinder beim Erledigen der Hausaufgaben, aber sie ist auch wichtig für den Zugang zu Informationen und die Bildung im Allgemeinen. Man bekommt Zugang zum Radio oder zum Telefon, mit dem man etwa den Notarzt rufen kann.“




    Die Situation der Kinder und Jugendlichen im Verhältnis zu den älteren Personen ist eben einer der Widersprüche der errechneten Armutsreduzierung, berichtet Victoria Stoiciu von der Friedrich Ebert“-Stiftung.



    Während Rumänien bei der Bekämpfung von Armut und der sozialen Ausgrenzung älterer Personen Fortschritte erzielt hat, waren diese Fortschritte bei den Jugendlichen viel bescheidener. Bei den jungen Rumänen im Alter von bis zu 16 Jahren ist die Armut um nur 6% zwischen 2007 und 2015 gesunken. Bei den über 64-Jährigen nahm die Armut um 24% ab. Für das beschleunigte Tempo könnte es auch eine Erklärung geben. 2009 hat die damalige Regierung eine Ma‎ßnahme getroffen, die zur Armutsreduzierung bei den älteren Personen entscheidend beigetragen hat: die Einführung der sozialen Mindestrente. Und dieser Pauschalbetrag liegt derzeit bei etwa 415 Lei, nicht einmal 100 Euro. Seien wir ehrlich! 100 Euro bieten kein anständiges Leben, aber es ist doch eine Verbesserung gegenüber vorigen Jahren.“




    Angesichts fehlender Strategien der für den sozialen Schutz zuständigen Behörden versucht die Zivilgesellschaft Abhilfe zu schaffen. Allein im vergangenen Jahr gelang es Free Mioriţa“ Solarstrom-Anlagen für 78 Haushalte in 15 Landkreisen zu liefern. Damit trug die Stiftung zur Elektrifizierung von vier Schulen und zwei Kirchen bei.