Tag: funktionale Analphabeten

  • Fernunterricht: Kinder aus sozial schwachen Milieus haben kaum Zugang

    Fernunterricht: Kinder aus sozial schwachen Milieus haben kaum Zugang

    Als eine Krisenlösung konzipiert, blieb der Fernunterricht nicht ohne Folgen. Diese sind jedoch schwer zu quantifizieren und hängen stark von den Lebensumständen der einzelnen Schüler ab. Am stärksten betroffen sind Kinder aus sozial schwachen Familien. Sie bildeten schon vor Corona einen gro‎ßen Teil der 44% funktionalen Analphabeten in Rumänien. Eine Studie, die Anfang des Jahres von World Vision Rumänien durchgeführt wurde, bestätigte die Annahme, dass 40% der Schüler aus sozial schwachen Familien keinen Zugang zum Online-Unterricht hatten. Dafür gibt es verschiedene Gründe, erklärte Mihaela Nabăr, Geschäftsführerin von World Vision Rumänien:



    Die Familien waren entweder aus finanziellen Gründen nicht in der Lage, die notwendigen technischen Mittel und die Infrastruktur wie Computer, Laptops, Tablets zur Verfügung zu stellen, oder sie hatten keine Internetverbindung. Wir wissen aus einer anderen Studie, die World Vision Rumänien durchgeführt hat, dass in jedem dritten Dorf, in dem World Vision tätig ist, die Internetverbindung sehr schwach oder gar nicht vorhanden ist. Auch die Lehrer waren nicht vorbereitet, ihren Schülern Online-Unterricht zu geben. Es ist essenziell, dass alle Kinder einen Zugang zur Bildung haben, denn Bildung ist ein Recht, und das bedeutet, dass wir alles tun müssen, damit sie dieses Recht wahrnehmen können. Die Situationen unterscheiden sich von einem Haushalt zum anderen, von einem Kind zum anderen sogar. In dieser Zeit hatten die Kinder keinen qualitativ hochwertigen Online-Unterricht. Es gab auch Situationen, in denen Lehrer von Tür zu Tür gingen und Arbeitsblätter verteilten, welche die Kinder ausfüllen und deren Fragen sie beantworten mussten. Andere wiederum schickten Nachrichten über WhatsApp auf den Handys der Eltern, zu denen die Kinder zu bestimmten Zeiten Zugang hatten. Es wurde viel experimentiert, damit die Kinder mit ihren Lehrern in Verbindung stehen konnten. Wir können aber nicht über einen guten Zugang zur Bildung, zu qualitativ hochwertiger Bildung sprechen.“




    Obwohl Rumänien weltweit gut dasteht, was den Internet-Anschluss anbelangt, geht aus Daten, die Anfang dieses Jahres präsentiert wurden, hervor, dass 237.000 Schüler keinen Anschluss hatten und 287.000 Schüler nicht über die notwendigen technischen Mittel verfügten. Etwa 40% der Schüler mangelte es an beiden. Und weil keine Lösung für diese Kinder gefunden wurde, sind die Folgen schwer zu ermessen, sagt Mihaela Nabăr:



    91% der Kinder sagen, dass sie oder ihre Eltern psychisch gelittten haben. Und mehr als ein Fünftel der Kinder, das sind etwa 23%, zumeist Dorfkinder, sagen, sie seien in dieser Zeit nicht glücklich gewesen. All dies wird sich mit Gewissheit auf ihre Wiedereingliederung in der Schule auswirken, wenn der Präsenzunterricht vollständig wiederaufgenommen wird. Wir begrü‎ßen die Entscheidung, den Präsenzunterricht zum Teil wiederaufzunehmen, weil es im Moment die einzige Möglichkeit ist, die Bildung der Kinder in den am meisten gefährdeten Gruppen zu gewährleisten.“




    50% der Lehrer, die an der Umfrage von World Vision Rumänien teilnahmen, sagten, dass ihre Schüler den Lehrstoff nachholen müssten, weil sie zurückgefallen sind und die Tests nicht bestehen können, sagt Mihaela Nabăr:



    Mehr noch, World Vision Rumänien stellte fest, dass es Kinder gibt, deren schulische Leistungen zurückgingen. Was ich sagen will ist, dass all diese Faktoren Prädiktoren für die Abbrecherquote darstellen. Der Schulabbruch wird in dieser Zeit ansteigen.“




    Obwohl die offiziellen Daten zum Schulabbruch erst Ende des Schuljahres, im Sommer, vorliegen werden, gibt es nicht wenige 14- bis 15-Jährige, die aufgrund der Zäsur im Bildungsprozess die Schule abbrachen. Entweder aus Angst, den Bewertungen nicht gewachsen zu sein, oder weil sie in ländlichen Gegenden Arbeiten im Haushalt übernahmen. Andere wiederum entschieden sich während des Fernunterrichts, arbeiten zu gehen und kehrten nicht wieder in die Schule zurück, als der Präsenzunterricht wiederaufgenommen wurde. Weltweit sind laut Statistik fast eine Milliarde Kinder von der Umstellung auf den Online-Unterricht betroffen. Im Vergleich zu Rumänien haben einige Länder bessere, andere weniger gute Erfahrungen gemacht, sagt Mihaela Nabăr von World Vision Rumänien — eine Organisation, die in 92 Ländern arbeitet:



    Es gibt Länder, die nicht so stark von der Pandemie betroffen waren, aber das liegt daran, dass ihre Systeme besser vorbereitet waren, sie waren widerstandsfähiger. Sicherlich werden auch wir widerstandsfähiger sein und uns besser anpassen können. Ja, es gibt Länder, die viel besser als wir mit dieser Pandemie umgegangen sind, und Länder, die viel schlechtere Ma‎ßnahmen im Bereich der Erziehung während Pandemie getroffen haben.“




    Abgesehen vom Wissensstand haben die einzelnen Länder eines gemeinsam: Der Fernunterricht hat seine Spuren bei Kindern und Eltern hinterlassen. Angstzustände, Depressionen oder Sehstörungen, verursacht von zu vielen Stunden vor den Bildschirmen, gehören zu den häufigsten Folgen. Mangelnde Sozialisation ging auch nicht ohne Folgen einher, die Jugendlichen sind unsicherer und bei einigen von ihnen machen sich bereits Grammatikfehler beim Sprechen bemerkbar.



    Audiobeitrag hören:



  • Soziales Bildungsrisiko: Schüler aus prekären Verhältnissen sind benachteiligt

    Soziales Bildungsrisiko: Schüler aus prekären Verhältnissen sind benachteiligt

    Über das rumänische Schulsystem wird schon seit langem viel geschrieben, von allen Seiten und aus allen Blickwinkeln. Eltern, Lehrer und Schüler brachten ihre eigenen Ansichten darüber ein, warum beispielsweise die Abbrecherquoten so hoch sind (im Jahr 2020 lag sie bei 15,3%, also über der EU-Rate). Viel diskutiert wurde auch, warum die Schüler so schlecht ausgebildet sind — denn 2018 galten etwa 40% der 15-jährigen Schüler als sogenannte funktionale Analphabeten. Ein anderes Thema war, warum die Lehrer nicht motiviert sind.



    Hinzu kommt die Tatsache, dass verschiedene soziologische Studien darauf hinweisen, dass viele Schüler aus ländlichen und benachteiligten Gebieten sehr arm sind, was Auswirkungen auf ihre Bildung hat. Um Klarheit zu schaffen, hat die NGO Human Catalyst das Konzept des sozialen Bildungsrisikos entwickelt, ein Instrument zur Messung von Bedingungen, die zu schlechten schulischen Leistungen und sozialer Ausgrenzung aufgrund schlechter Bildung führen. Unter diesem Gesichtspunkt wurden fast alle Schulen in Rumänien über einen Zeitraum zwischen 2015 und 2019 geprüft, wobei die Untersuchung auf Klassen zwischen der ersten und achten Klasse lief. Es handelt sich dabei um ein Aggregationsinstrument, da die Schulleistungen stark von dem Umfeld beeinflusst werden, in dem die Bildung stattfindet, erläutert Laura Greta Marin, die Human Catalyst vorsteht:



    Mit Hilfe von Langzeitdokumentationen, theoretischen Studien, aber auch Feldforschung haben wir diese Formel und diesen Algorithmus entwickelt, bei dem wir Bildungsdaten mit Informationen über den Kontext, in dem das Kind lebt, oder über die Gegend, in der die Schule liegt, kombinieren. Das ist wichtig, denn es ist eine bekannte Tatsache, dass die Umgebung einen erheblichen Einfluss auf die schulischen Leistungen hat. Daher war es uns ein gro‎ßes Anliegen, einen relevanten und vertrauenswürdigen Indikator zu finden, der zusätzlich zu den offiziellen Daten über Bildungssysteme verwendet werden kann. Es handelt sich dabei um ein Instrument zur Aggregation von Daten über das schulische Umfeld wie auch über das Lebensumfeld der Menschen.“





    Die Ergebnisse der Anwendung des Sozialen Bildungsrisikos zur Untersuchung rumänischer Schulen über vier Jahre wurden kürzlich in einer einschlägigen Studie veröffentlicht. Sie wird von einer Online-Karte begleitet, die die Situation der Schulen in jedem Landkreis detailliert beschreibt. Doch welche Indikatoren flie‎ßen in das Bildungsrisiko ein? Zum einen die Schulabbrecherquote, aber auch andere Elemente, die Laura Greta Marin erklärt:



    Ein wichtiger Indikator ist die Ausbildung der Lehrer, ausgedrückt durch die Anzahl der Lehrer ohne angemessene Ausbildung im Verhältnis zur Gesamtzahl der Lehrer in einer bestimmten Einheit. Dann haben wir die Schüler gezählt, die nicht an der nationalen Lernstanderhebung teilgenommen haben, und auch den Notendurchschnitt der Schüler, die daran teilgenommen haben. Auch ziehen wir den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Region oder des Ortes heran, den wir von der Weltbank haben. Hier wird die Ausgrenzung von 1 bis 4 eingestuft, wobei 4 der maximale Grad ist. Dies bedeutet ein niedriges Bildungsniveau sowie ein niedriges soziales und wirtschaftliches Niveau.“





    Nachdem Human Catalyst so über 4000 Schulen prüfte, kam der Verein zum Schluss, dass fast 40% von ihnen zwischen 2018 und 2019 sozialpädagogisch gefährdet waren. Über 1.500 wurden als benachteiligt“ eingestuft, also fast 40%. Das ist weit mehr als im Zeitraum 2017–2018, als 27% der Schulen benachteiligt“ waren, und noch mehr als 2015–2016. Am schlimmsten schnitten die Landkreise Covasna, Vaslui, Mureș, Călărași und Tulcea ab. Auch in Bezug auf die Lehrerausbildung besagt die Human Catalyst-Studie, dass es für benachteiligte Gebiete schwierig ist, an ausgebildetes Lehrpersonal zu kommen. Rückläufig sind die Ergebnisse der Nationalen Lernstandserhebung am Ende der 8. Schulklasse. Bei der Analyse dieser Ergebnisse kamen die Mitarbeiter von Human Catalyst zu dem Schluss, dass die Durchschnittsnoten im Schuljahr 2018–2019 in allen Landeskreisen mit vier Ausnahmen im Vergleich zum Schuljahr 2015–2016 niedriger waren.



    Die Studie gilt nun als Grundlage für die Bildungspolitiker, die Gegenma‎ßnahmen erarbeiten müssen.

  • Funktionale Analphabeten: Ist rumänische Schule unfähig, praktische Kompetenzen zu vermitteln?

    Funktionale Analphabeten: Ist rumänische Schule unfähig, praktische Kompetenzen zu vermitteln?

    In den letzten Jahren lag der durchschnittliche Stand des funktionalen Analphabetismus in den EU-Staaten bei 20%. In Rumänien überschreitet dieser den europäischen Durchschnitt stark und erreicht sogar 42% im Falle der 15-jährigen Schüler, hei‎ßt es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Zu diesem Ergebnis ist man 2015 nach minutiösen Berechnungen gekommen, die die Ergebnisse der rumänischen Schüler bei verschiedenen Tests berücksichtigten: PISA, TIMSS, PIRLS etc. Ausschlie‎ßlich anhand der PISA-Prüfungen (wodurch sowohl sprachliche als auch wissenschaftliche Kenntnisse bewertet werden), die letztes Jahr stattgefunden haben, liege der Stand des funktionalen Analphabetismus der rumänischen Schüler bei 38%. Wie wertet man diese Zahlen jedoch aus? Wodurch kennzeichnen sich die Schüler, die als funktionale Analphabeten eingestuft werden? Das erklärt uns Cristian Hatu, Gründungsmitglied des Zentrums für Bildungsevaluierung und –analysen.



    Sie sind nicht fähig, einigerma‎ßen strukturiert zu denken, eine recht elementare Analyse durchzuführen. In Mathematik z.B. können sie addieren, multiplizieren, aber wenn sie mit einer konkreten Situation konfrontiert werden, wissen sie nicht wirklich, welche elementaren Operationen sie anwenden müssen. Wenn sie Teppichboden für einen bestimmten Raum kaufen müssten, wüssten sie nicht, wie sie die Fläche berechnen sollen, und sie können keine einfache Grafik interpretieren.“




    Die Schüler erkennen ihrerseits, wenn auch nur empirisch, diese Situation und finden Erklärungen dafür. Vlad Ştefan ist der Vorsitzende des Nationalen Schülerrates und Schüler des Nationalen Gymnasiums Andrei Şaguna“ in Kronstadt.



    Leider ist das rumänische Bildungswesen in der Vergangenheit verankert geblieben. Man hat es nicht geschafft, das rumänische Schulwesen wie andere europäische Bildungssysteme, die auf Analyse-, Studien- und Beobachtungsfähigkeiten der einzelnen Schüler setzen, zu reformieren. Leider fördert die rumänische Schule nur den Grundsatz, Informationen zu lernen und diese zu wiedergeben, ohne dass der Schüler diese tiefgründig versteht, ohne dass er daraus das entnehmen kann, was er braucht. Viele Aspekte des rumänischen Lehrplans sind einfach nicht nützlich und überladen ihn noch zusätzlich.“




    Es ist also eine Frage der Lehrmethode und der Lehrpläne. Der funktionale Analphabetismus ist demokratisch“ in der Gesellschaft verbreitet, egal ob wir über Städte oder Dörfer sprechen, meint Cristian Hatu.



    Den funktionalen Analphabetismus finden wir nicht nur in benachteiligten Regionen. Es gibt einen schwachen Zusammenhang zwischen dem sozial-wirtschaftlichen Stand und der Leistung des Schülers, was z.B. Mathematikwissen anbelangt. Dieser Zusammenhang liegt irgendwo bei 17%-19%.“




    Damit sich die Lage ändert, benötigt man ein neues Bildungsmuster, das sich auf Lernen und Verstehen stützt. Was das hei‎ßt, erfahren wir von Cristian Hatu.



    Man müsste sich als Lehrer bemühen, die Lehrwerkzeuge anzuwenden, sodass der Schüler das besprochene Thema besser versteht, egal ob in Physik, Mathematik oder in der Literatur. Man muss den Schülern zeigen, welcher Zusammenhang zwischen dem besagten Thema und dem Alltag besteht. Natürlich gibt es unter uns Lehrer, die das tun. Sie haben erkannt, dass es darum geht, und da bemühen sie sich alleine in diese Richtung. Einige haben Kurse abgeschlossen, aber die Mehrheit kann diese Art von Werkzeugen nicht von alleine ausarbeiten. Für die Lehrer müssen Kurse veranstaltet werden, um ihnen diese Lehrweise beizubringen. Alleine kann man solche Fähigkeiten nur sehr selten erzielen. Alles hängt von den Entscheidungsträgern ab.“




    Eine Änderung wollen insbesondere jene, die direkt betroffen sind, denn der funktionale Analphabetismus, den man zuerst in der Schule erkennt, wird auf dem Arbeitsmarkt noch deutlicher. Vlad Ştefan, Vorsitzender des Nationalen Schülerrates.



    Man stellt es fest, wenn es um nationale oder Abiturprüfungen oder um internationale Prüfungen geht, die sich mehr auf Allgemeinwissen oder auf die Kritik- und Bewertungsfähigkeit des Schülers stützen. Die rumänischen Schüler, die in einem veralteten Bildungssystem lernen, sind den Anforderungen der rumänischen oder des europäischen Arbeitsmarktes nicht gewachsen.“




    Die Umwandlungen des Arbeitsmarktes in den letzten Jahrzehnen setzen einen gewissen Anpassungsgrad voraus, den die rumänische Schule vorerst nicht fördert. Am Mikrophon ist wieder Cristian Hatu, Gründungsmitglied des Zentrums für Bildungsevaluierung und –analysen.



    Die Menschen wechseln ihren Beruf ungefähr drei- bis viermal im Laufe ihres aktiven Lebens, laut einer Studie der Weltbank, die ich vor einigen Jahren gelesen habe. Es entsteht die Frage: Was macht die Schule und wie wird ein Schüler ausgebildet, damit er sich in seinem Erwachsenenleben an einen neuen Beruf anpassen kann? Auch wenn es ein Mensch schafft, seinen Beruf beizubehalten, muss er sich trotzdem an die sich ändernden technischen Gegebenheiten anpassen. Es gibt immer mehr Situationen, in denen der Angestellte verschiedene Situationen rationell ansetzen muss, mit denen er in der Vergangenheit nicht konfrontiert wurde. Die Schule muss vor allem seine kritische Denkweise und seine Problemlösungsfähigkeit, seine Kreativität ausbilden.“




    Die Arbeitskraft muss sich also in einer dynamischen Wirtschaft laufend anpassen. Dafür benötigt diese gewisse Kompetenzen, die ihr nur die Schule verleihen kann. Funktionale Analphabeten sind aus diesem Gesichtspunkt am wenigsten vorbereitet.