Tag: Genozid

  • Genozid: Armenische Flüchtlinge in Rumänien

    Genozid: Armenische Flüchtlinge in Rumänien

    Das 20. Jahrhundert hat eine schockierende Eigenschaft: Es war das Jahrhundert der Genozide. Der erste Genozid von vielen noch grö‎ßeren war der vom Osmanischen Reich an den Armeniern verübte Völkermord, in dessen Verlauf 1,5 Millionen Armenier getötet wurden — also etwa die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe. Offizieller Beweggrund der Osmanischen Herrscher war es, dass die Armiener sich mit den russischen Streitkräften verbrüdert hätten. In Wahrheit handelte es sich jedoch um politische Motive, Nationalismus und eine Ideologie eines Wirtschafts-Panturkismus: Armenier und Griechen besa‎ßen Handelsunternehmen und Banken im Osmanischen Reich. Dazu kamen religiöse Gründe, denn die muslimischen religiösen Führer hatten den Ungläubigen den Heiligen Krieg erklärt.



    Alles begann mit einem Aufstand armenischer Männer, die zum Bau von Eisenbahnlinien gezwungen worden waren, bei dem sie verhungerten oder zu Tode geprügelt wurden. Am 24. April 1915 gab der Groswesir und Kommunikationsminister Talaat Pascha die Order aus, alle armenischstämmigen Familien zu deportieren. Den Glücklichen unter den Unglücklichen gelang es, sich zu retten. Manche von ihnen flüchteten auch nach Rumänien, wie der Historiker Eduard Antonian berichtet. Ihm zufolge begannen die armenischen Flüchtlingsströme nach Rumänien Ende des 19. Jahrhunderts, nach dem Genozid von 1895-96.



    Unter der Herrschaft von Sultan Abdul Hamid dem Zweiten, auch Roter Sultan genannt, wurden um die 350.000 Armenier ermordet. Damals floh ein wichtiger Teil der armenischen Bevölkerung aus dem Osmanischen Reich nach Rumänien. Heute sind etwa 10 Prozent der armenischen Gemeindemitglieder in Rumänien Nachfahren derer, die nach dem ersten Genozid hierher gekommen sind. Die ersten Flüchtlinge waren noch in einer relativ guten finanziellen Situation und konnten mit etwas Geld aus dem Osmanischen Reich fliehen. Sie haben Läden eröffnet und ihre Verbindungen mit der alten Gemeinde in Rumänien aufrecht erhalten. Sie haben ihr Leben weitergeführt und sich perfekt in die rumänische Gesellschaft integriert.“




    Doch wie gelang denjenigen, die es nach Rumänien geschafft haben, die Flucht? Eduard Antonian:



    Sie bekamen Hilfe. Ein Teil von ihnen sogar von der türkischen und arabischen Zivilbevölkerung. Andere hatten einfach Glück. Vielen gelang es, osmanische Herrscher zu bestechen, viele hatten Glück mit ausländischen Missionaren, weil die Amerikaner sich sehr eingebracht haben. Die USA waren damals ein neutrales Land. Sie hatten eine gut aufgestellte Botschaft, der Botschafter Henry Morgenthau brachte sich aktiv in die Hilfsaktionen für Armenier ein. Später hat er die Verbrechen gegen die Armenier in seinen Memoiren öffentlich verurteilt. Darüber hinaus gab es dänische oder deutsch-protestantische Missionare, die denjenigen halfen, die fliehen mussten.“




    Nach Schätzungen von Historikern haben etwa 20.000 Armenier einen Unterschlupf in Rumänien gefunden und Rückhalt in der armenischen Gemeinde hier erfahren — etwa ein Viertel davon Waisen. Sie kamen in mehreren Wellen, die meisten zu Beginn des Krieges. Eduard Antonian hat die Fluchtwege derjenigen nachgezeichnet, die in einer Welt aus Zerstörung und Tod einen sicheren Ort suchten.



    In Istanbul sind sie an Bord eines französischen Schiffs gegangen und sind so nach Constanţa gelangt. So haben es auch mein Urgro‎ßvater und seine Kinder gemacht. Auf diesem Dampfer befanden sich tausende Kinder, die im Zuge des Völkermords zu Waisen geworden waren. In Rumänien gab es eine armenische Gemeinde, die gut strukturiert und finanziell gut aufgestellt war. Es gab damals Berühmtheiten wie Krikor Zambaccian, Grigore Trancu-Iaşi, die Brüder Mansarian, die wichtigsten Getreidegro‎ßhändler Südosteuropas. Man muss sagen, dass die Armenische Union 1919 nur gegründet wurde, um den Flüchtlingen zu helfen. Der erste Präsident war Grigore Trancu-Iaşi. Die Ankunft der Flüchtlinge am Hafen von Constanţa hat alle entsetzt. Die Zeitung »Adevărul« hatte 1919 einen Korrespondenten in Istanbul und konnte über den Genozid berichten. Daher wusste die rumänische Öffentlichkeit, was mit den Armeniern im Osmanischen Reich geschah. Armenad Manisarian, der zweite Präsident der Armenischen Union, hat sich einmal mit Brătianu, dem rumänischen Premierminister, getroffen und hat ihn gefragt, was man mit all den armenischen Flüchtlingen tun könne. Brătianu fragte zurück, ob Manisarian in jedweder Hinsicht für die Flüchtlige garantieren könne. Er sagte ja. Und so gab der Premier grünes Licht dafür, dass sich alle Armenier hier niederlassen durften. Die Staatsbürgerschaft erhielten sie später. Die Flüchtlinge waren mit einem Nansen-Pass für Staatenlose hierher gekommen, der nur für eine Reise gültig war. Nach der Ankunft der Waisen hat sich die armenische Gemeinde zusammengetan und mehrere Hektar Land in Strunga, bei Iaşi gekauft. Dort haben sie ein Waisenhaus mit Lehrern gebaut, in dem die Waisen aufwachsen konnten. Sie lernten dort einen Beruf und konnten ihrem Leben einen Sinn geben, viele von ihnen wurden von anderen armenischen Familien in Rumänien adoptiert. Viele haben Läden eröffnet, so auch mein Gro‎ßvater, der eine Schusterwerkstatt in Bukarest aufgemacht hat.“




    Im Laufe der Zeit sind die Kriegstraumata verblasst, obwohl nichts vergessen ist. Eduard Antonian berichtet, dass die armenischen Flüchtlinge weiterhin zwischen schockierenden Erinnerungen und Hoffnungen leben.



    Die Armenier, die aus dem Osmanischen Reich geflohen sind, haben sich immer als osmanische Bürger verstanden. Sie waren gute Staatsbürger, zahlten Steuern, traten in die Armee ein, sprachen türkisch. Die Gemeindemitglieder haben mir erzählt, dass ihre Eltern, die vor dem Genozid geflohen sind, miteinander türkisch sprachen, wenn sie Geheimnisse vor ihren Kindern hatten. Leider haben sich einige von ihnen von der sowjetischen Propaganda hereinlegen lassen und sind wieder nach Armenien zurückgegangen. Sie sagten sich, dass sie jetzt ihr eigenes Land hätten. 1991, als Armenien sich unabhängig erklärt hat, sind einige der Kinder derjenigen, die ins sowjetische Armenien ausgewandert waren, wieder nach Rumänien zurückgekommen.“




    Die armenischen Flüchtlinge, die in Rumänien eine neue Heimat fanden, sind aus dem Osmanischen Reich geflohen, um die unbekannten Geschichten derjenigen zu erzählen, die 1915 in der anatolischen Wüste gestorben sind. Aber auch, um das Unmenschliche in etwas Menschliches zu verwandeln.

  • Kontroverse um Massaker im Ersten Weltkrieg: Was lehrt uns die armenische Geschichte?

    Kontroverse um Massaker im Ersten Weltkrieg: Was lehrt uns die armenische Geschichte?

    Die Menschheit habe im vergangenen Jahrhundert drei gro‎ße, unerhörte Tragödien“ erlebt, zunächst jene, die als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts“ angesehen werde und die das armenische Volk traf, sagte der Papst zur Begrü‎ßung des armenischen Staatspräsidenten Sersch Sargsjan vor Beginn einer im armenischen Ritus gefeierten Messe im Petersdom. Dabei zitierte er ein im Jahre 2000 von Papst Johannes Paul II. und dem armenischen Patriarchen unterzeichnetes Dokument. Den Völkermord an den Armeniern stellte Franziskus in eine Reihe mit den späteren Völkermorden des Nationalsozialismus und des Stalinismus.



    Jerewan behauptet, dass 1,5 Millionen Armenier und damit knapp die Hälfte der damaligen armenischen Bevölkerung zwischen 1915 und 1917, den letzten Existenzjahren des Osmanischen Reiches, getötet wurden. Die Opfer der Massaker wurden von der Armenischen Kirche heiliggesprochen. Die Türkei lehnt die These entschlossen ab, wonach das Osmanische Reich die systematische Beseitigung der armenischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg geplant hätte. Istanbul ist ferner nicht mit dem Gebrauch des Begriffs “Völkermord” in diesen Zusammenhang einverstanden, ein Begriff, den Armenien, zahlreiche Historiker und weitere 20 Staaten einschlie‎ßlich Frankreich, Italien und Russland verwenden.



    Jetzt reagierte Ankara vehement auf die Äu‎ßerungen von Papst Franziskus. Bei den Vorfällen habe es sich vielmehr um einen Bürgerkrieg gehandelt, bei dem zwischen 300.000-500.000 Armenier und ebenso viele Türken starben. Einige Mitglieder des Europäischen Parlaments wurden von der türkischen Regierung zudem eines “religiösen und kulturellen Fanatismus” bezichtigt. Das, weil sie eine Resolution zum Gedenken an die armenischen Opfer der Hinrichtungen und Massendeportationen der letzten Jahre des Osmanischen Reiches angenommen hatten. Die Legislative der EU versuche die Geschichte neu zu interpretieren, hie‎ß es aus diplomatischen Kreisen der Türkei. In der Resolution zum 100. Jahrestag der Massaker während des Ersten Weltkriegs wird die Türkei als völkerrechtlicher Nachfolger des Osmanischen Reiches zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern aufgerufen. Es gebe eine Eklärung für die Haltung Ankaras, wei‎ß Professor Consantin Hlihor.



    Im Völkerrecht hat diese Art von dramatischen Ereignissen einen dunklen Schatten auf die Staaten geworfen, die eine ähnliche Politik zur Beseitigung einer Volksgruppe, einer Nation geführt haben. Das extrem negative Image bleibt haften, wenn man sich etwa auf die Ereignisse Mitte des vergangenen Jahrhunderts während des Zweiten Weltkriegs bezieht, auf die von Hitlerdeutschland gegen die Juden begangenen Verbrechen und die von Stalin gegen die eigene Bevölkerung.



    Überhaupt sollte die Geschichte als Brücke zwischen den Nationen dienen und zur Stabilität und Zusammenarbeit beitragen, glaubt Constantin Hlihor. Auf keinen Fall sollte sie zum destabilisierenden Faktor werden, der zu Hass und Auseinandersetzungen führt. Zwei Aspekte müsse man in Zusammenhang mit dem armenischen Drama berücksichtigen, erklärt Constantin Hlihor.



    Es geht zum einen um den historischen Aspekt, man muss die Wahrheit über die Tragödie der Armenier im Ersten Weltkrieg erfahren. Dann gibt es den politischen Aspekt, der die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Staaten um die Definition der Ereignisse von damals betrifft. Die Türken lehnen den Begriff Genozid ab, weil die Definition ihrer Ansicht nach relativ spät, nach dem Zweiten Weltkrieg, ins Völkerrecht aufgenommen wurde und sie andere historische Ereignisse betrifft als jene Anfang des 20. Jahrhunderts. Eines ist aber unabhängig des Blickwinkels klar: Ein Volk des Südkaukasus, das armenische Volk, hat diese tragischen Ereignisse erleben müssen, weil es Teil eines Reiches war, das dabei war, seine Machtstellung in den internationalen Beziehungen zu verlieren. Das armenische Volk war Teil einer osmanischen Gesellschaft, die mit ihren Modernisierungstendenzen gescheitert war und in eine neue Entwicklungsetappe trat. Die damaligen Ereignisse kann und darf das kollektive Gedächtnis heute nicht vergessen. Andererseits dürfen historiographische Kontroversen, die bei Aufarbeitung der Vergangenheit normal sind, keine politische Dimension erhalten. Denn die Geschichte darf die Völker nicht auseinander bringen, die historische Wahrheit sollte Gemeinschaften von Menschen nicht zu feindlichen Gesten anstiften. Die Geschichte muss als Verbindungselement dienen, das für mehr Stabilität, mehr Vertrauen und Zusammenarbeit sorgt.



    Ist es dann nur eine Image-Angelegenheit oder spielen die möglichen Entschädigungen eine Rolle? – fragten wir Professor Constantin Hlihor.



    Es stellt sich die Frage der Entschädigungen für die Angehörigen der Opfer der dramatischen Ereignisse, die in der Stadt Van ihren Lauf nahmen, der Armenier die in die syrische Wüste deportiert wurden. Diese Ansprüche stehen nicht in Verbindung mit der Geschichte, sondern mit dem Völkerrecht. Armenien oder irgendjemand müsste ein Verfahren einleiten, ähnlich wie der Prozess gegen das Nazi-Regime nach dem Zweiten Weltkrieg und erst dann kann über Entschädigungen verhandelt werden.



    Rumäniens Au‎ßenminister und Berater des Ministerpräsidenten Titus Corlăţean hat indes in einem Statement darauf hingewiesen, dass Bukarest den Dialog zwischen der Türkei und Armenien in der heiklen Angelenheit befürwortet. Im Laufe der tragischen Ereignisse vor 100 Jahren haben Wohltätigkeitsverbände, Diplomaten, Ärzte und einfache Bürger den ins Exil vertriebenen Armeniern geholfen. Rumänien zählt zu den Ländern, die den Zehntausenden armenischen Flüchtlingen Asyl gewährten.

  • Deportation der rumänischen Roma (1942): Der Völkermord und die Geschichte von den Pappkartonbooten

    Deportation der rumänischen Roma (1942): Der Völkermord und die Geschichte von den Pappkartonbooten

    Am 1. Juni 1942 begann das Regime des Marschalls Ion Antonescu mit der Deportation der Roma aus Rumänien in die Arbeitslager in Transnistrien. Zwischen 25.000 und 38.000 Roma wurden damals über den Dnjestr in Arbeitslager geschickt — am Ende des Zweiten Weltkrieges waren von den Deportierten nur etwa 1.500 Menschen am Leben geblieben. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Arbeitslagern waren äu‎ßerst schwer, Krankheiten wie Dysenterie und Typhus waren die Hauptursachen für die hohe Sterbensrate bei den Gefangenen. Trotz der Proteste des Königs Michael. I und der Mutterkönigin Elena hat das Antonescu-Regime überhaupt nichts unternommen, um die Roma aus den Arbeitslagern zu befreien oder ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die offizielle Begründung war, da‎ß die nomadischen Roma eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten.



    Die kollektive Tragödie der rumänischen Roma lie‎ß aber auch Mythen entstehen wie zum Beispiel die Geschichte der Pappkarton-Boote. Man erzählte, da‎ß die Roma gezwungen wurden, in Pappkarton-Boote einzusteigen; der Karton sog sich mit Wasser voll, die Boote gingen kaputt, kenterten in der Mitte des Flusses Bug, und alle Bootsinsassen ertranken. Der Soziologe Adrian Nicolae Furtună, der ein Forschungsteam im Bereich Geschichte und Kultur der rumänischen Roma leitet, sagt aber, die Geschichte der Pappkarton-Boote sei ein Mythos:



    Diese Episode wird in keinem Archiv, in keinem Dokument erwähnt. Wir haben auch Interviews mit Überlebenden von Deportationen geführt, und niemand wu‎ßte etwas über diese Pappkarton-Boote, es gab auch keine Augenzeugen. Wenn man daran denkt, wie die Juden in Transnistrien getötet wurden, klingt diese Geschichte über Roma, die auf Pappkarton-Booten auf den Bug trieben, bis die Boote sich mit Wasser vollsogen und die Menschen ertranken, sogar ein bi‎ßchen ironisch. Es gibt viele Fragezeichen in Bezug auf diese Pappkarton-Boote. Infolge unserer Forschungen sind wir zu dem Schlu‎ß gekommen, da‎ß dieser Mythos nach dem Kentern des Schiffes ‚Struma‘ entstanden war, das Februar 1942 von einem Torpedo versenkt wurde. Die Roma haben die Struma-Tragödie übernommen und an ihre eigene Kultur angepa‎ßt. Diese soziale Projektion eines vorangegangenen Ereignisses wurde durch mehrere Elemente ermöglicht, vor allem durch den ersten Plan des Marschalls Antonescu, der vorsah, dass die Roma über Wasser deportiert werden sollten. Vor der Deportierung fand eine Zählung der Roma-Bevölkerung statt; die Gendarmen gingen von Haus zu Haus und sagten den Leuten Bescheid, wer deportiert wird. Eine soziale Projektion ist aber eine Kette von einzelnen Elementen, und diese versuchen wir klarzustellen. Es gibt auch Dokumente über die Anzahl der Roma, die mit Lastkarren zu den Donauhäfen transportiert werden sollten. Und die Roma dachten, sie würden wie die Juden vom Schiff ‚Struma‘ ertrinken.“




    Die jungen Roma von heute erinnern sich kaum noch an den Völkermord gegen die Roma in Rumänien. Adrian Nicolae Furtună erklärt, wie die Erinnerungskette die Übernahme anderer Tragödien bewirkte und zum Entstehen des Mythos beitrug:



    Wir haben versucht, über den Mythos hinaus zu schauen, um zu sehen, welche Elemente noch in dieser Geschichte enthalten sind. Die meisten jungen Roma verfügen über keine konkreten Daten über die Deportation nach Transnistrien. Sie wissen nicht, in welchem Jahr die Deportation begann, sie kennen nicht einmal Schlüsselwörter wie ‚Transnistrien‘ oder ‚Bug‘, aber sie kennen die Geschichte mit den Pappkarton-Booten. Sie assoziieren diese Geschichte mit dem Holocaust im Westen, weil der Holocaust dort viel stärker mediatisiert wurde. Viele junge Roma sagen, dass die nach Transnistrien deportierten Roma vergast wurden, was aber nicht geschehen ist. Wir wollten aber die Art und Weise untersuchen, wie die historischen Ereignisse von einer Generation zur anderen übertragen werden. Bei den Roma geschieht das auf besondere Weise, denn sie erzählen einander viele Geschichten und Mythen. Die Roma aus dem Stamm der Holzschnitzer sagen zum Beispiel, dass die Mitglieder des Königshauses Holzlöffel und Holzzuber benutzen, und deshalb seien die Angehörigen dieser Berufsgruppe nicht deportiert worden. Es gab aber selbstverständlich auch Fälle von deportierten Holzschnitzern unter den Roma, und jene, die nicht deportiert wurden, sagten, sie hätten bessere Löffel oder Zuber geschnitzt als diejenigen, die nach Transnistrien verschleppt wurden. Sie hätten schönere Holzgegenstände hergestellt, die vom königlichen Haus verwendet wurden, und das habe sie vor der Deportation gerettet. Das ist vielmehr ein weiterer Mythos, der über die Kultur der rumänischen Roma Auskunft gibt.“




    Der Mythos der Pappkarton-Boote hat aber auch die Funktion, die Erinnerung an den Völkermord an den Roma aufrecht zu erhalten, auch wenn dies auf ungewöhnliche Art geschieht. Der Soziologe Adrian Nicolae Furtună dazu:



    Ich führte ein Interview mit einer 90 Jahre alten Frau. Sie selbst war nicht deportiert worden, aber weil sie so alt war, konnte sie mir konkrete Informationen über die damalige Situation der Roma liefern. Während des Interviews kam ihr Enkel zu uns und sagte der Frau, sie möge mal erzählen, wie Marschall Antonescu die Roma in Pappkarton-Booten über den Bug geschickt hatte. Und dabei lachte er. Immer wenn ich die Roma-Gemeinden aufsuche, manchmal mit Kamerateams, zeigen sich die Leute sehr daran interessiert, Auskunft zu geben, sie wissen schon, da‎ß wir Überlebende von Deportationen suchen. Da sagen die Leute lachend zueinander: ‚Du, Costică, erzähl’ ihnen mal, du warst doch auch am Bug!‘ So beziehen sich die Roma auf die Ereignisse, und die historischen Wurzeln der Deportation zeigen, dass es dafür soziale Kriterien gegeben hatte. Deportiert wurden vor allem die Roma, die keine Wohnung und keinen Arbeitsplatz hatten, es handelte sich um eine soziale ‚Säuberungsaktion‘. Und das führte zu Prahl- und Spottgeschichten innerhalb der Roma-Gemeinde: ‚Schau mal, mein Nachbar, der keinen Arbeitsplatz hat, wird deportiert, ich aber nicht!‘ Es gab keine Solidarität zwischen den Menschen, und der Mythos der Pappkarton-Boote hat die Funktion, die Erinnerung wachzuhalten. Die Erinnerung wird aber auf ironische Weise aufrechterhalten, im Unterschied zu ähnlichen Ereignissen in der westlichen Kultur, von denen Menschen in Westeuropa die klare Erkenntnis haben, dass es sich um Tragödien wie Verschleppung handelte. Ein Mensch, der in der westlichen Kultur lebt, würde über ein so tragisches Ereignis wie Deportation niemals ironisch sprechen.“




    Auch wenn die Episode der Pappkarton-Boote in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat, kann man die Tragödie der Roma, der ärmsten Mitglieder der rumänischen Gesellschaft, nicht ignorieren. Und das Umkrempeln ganzer Gesellschaften, um neue Gesellschaftsordnungen durch die Beseitigung ganzer Völker oder sozialer Schichten herzustellen, war unweigerlich unmenschlich und kriminell.



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