Tag: Jahrhundertwende

  • Jahrhundertwende: Junge Künstlergruppe revolutioniert Kunstverständnis um 1900

    Jahrhundertwende: Junge Künstlergruppe revolutioniert Kunstverständnis um 1900

    Die in den 1860er Jahren gegründete Literatengruppe Junimea“ — die übersetzt sinngetreu Jugend“ bedeutet — war nur der Anfang. Noch radikaler und westlicher orientiert war jedoch die Gruppe Tinerimea artistică“, die gleich nach der Wende zum 20. Jahrhundert nach dem Vorbild der Wiener Sezession und der Art Nouveau im französischsprachigen Raum Europa entstand. Tinerimea artistică — die Künstlerjugend — war als Bewegung auf eine ästhetische Revolution aus und setzte konzeptuell fast 1:1 den modernistischen Trend aus dem Westen um. Für Erwin Kessler, Ästhetiker und Kunstphilosoph, entstand die Bewegung als Reaktion auf den offiziellen Kanon und als rumänischer Ausdruck der neuen europäischen Strömungen.



    Viele dieser neuen Kreationen und Konzepte entstanden aus reiner Not, aus Frust. Und so kam es zu diesem phantastischen, frühlingsverhei‎ßenden Namen und diesem au‎ßerordentlichen Erscheinungsbild im franko-englischen Mix der »Tinerimea artistică«. Der Name selbst klingt nach Aufbruch, nach dem Startschuss für eine Künstlernation“, findet Kessler. Es ging den Anhängern darum, gegen den Kanon der älteren Künstler zu rebellieren. Aber anders als heute, so Kessler, standen hinter den innovativen Ansätzen nicht die Studenten: Es waren nach heutigen Begriffen eher reife Künstler von 30–35 Jahren, die es ganz satt hatten.



    Die »Tinerimea artistică« erschien im Kielwasser der Weltausstellung in Paris zwischen dem 14. April und dem 12. November 1900, der gro‎ßen Ausstellung, die die die Belle Époque prägte. Sie war kultureller Austragungsort für Geopolitik, für Zivilisationsgeschichte und wirkte für die rumänischen Künstler sehr frustrierend“, meint Kessler. Rumänien trat damals als schizoides Land auf, beschreibt er die Lage — es gab einen nationalen Pavillon in Form eines Ölbohrturms, der den Blick in das industrielle Zeitalter Rumäniens offen gab. Doch im Inneren waren Heiligenbilder, Volkstrachten und Bauernkunst zu sehen. Rumänien sah aus wie ein Land mit einem riesigen traditionellen bäuerlichen Kern unter einer sehr dünnen Industrieschale — dieser schizoide Auftritt war perfekt wirklichkeitsgetreu, da über 75% der Bevölkerung am Land lebten, erläutert Kulturphilosoph Erwin Kessler.




    Zur damaligen Zeit war Nicolae Grigorescu der offizielle Maler und Begründer der rumänischen Malerei. Er weigerte sich, in Paris auszustellen, weil der zugeteilte Raum zu klein war, und andere Künstler standen ihm bei. Die Pariser Weltausstellung war der Auslöser der Energie zum Protest gegen den Manierismus in der Kunst. Es entstand dort ein Riss für die Moderne. Die zweitbesten Maler sagten nämlich: Wir wollen dabei sein. Keine Karrieresüchtigen, sondern Maler wie Ştefan Luchian und Theodor Pallady, die zum Glück auch sehr gut waren. Sie haben die Herausforderung angenommen, sich auf kleinstem Raum in einer Ecke des Grand Palais zu zeigen“, erklärt Erwin Kessler.



    Der Saal im Grand Palais war derart klein und unbequem und isoliert, dass die Künstler rebellierten und etwas Besseres für ihre Zukunft anstrebten. Unzufrieden, gründeten etwa ein Dutzend Künstler, die in Paris und München studiert hatten, am 3. Dezember 1901 die Tinerimea artistică“. Zu ihnen gehörten Ştefan Luchian, Gheorghe Petraşcu, Frederick Storck, führt Ästhetiker Erwin Kessler aus. Obwohl die Gruppe für einen neuen Kanon eintrat, für mehr Realismus und soziale Themen in der Kunst, war sie doch eher elitär ausgerichtet. Die »Tinerimea artistică« war ja nicht die erste Künstlergesellschaft, schon 1890 wurde der Künstlerkreis, der »Cercul artistic«, gegründet — das war aber eine Sammelbewegung. Wer wollte, konnte dort beitreten. Die »Tinerimea artistică« ist jedoch eine Elitegruppe, die von 1901 bis zum Verbot durch die Kommunisten 1947 nie ein Ästhetik-Abhandlung, ein Manifest der Mitglieder veröffentlichte“, so Kessler.




    Für die Mitglieder der Künstlerjugend waren Ausstellungen und Kataloge das Ein und Alles. Ausstellungen waren ihr Ziel, das sie konsequent verfolgten. Das war eine Modernisierung, eine Alternative zum offiziellen staatlichen Ausstellungsbetrieb. Diese Ausstellungssalons der Künstlerjugend standen unter dem Zeichen des Moderne; die Gruppe förderte eine Neubelebung der Kunst, aus der sich dann Avantgarde, absurde Kunst und Surrealismus speisten.

  • 120 Jahre rumänischer Sozialdemokratie

    120 Jahre rumänischer Sozialdemokratie

    Im Westen war Sozialismus am Anfang eine Idee und ein Programm zur Sozialreform, das sich vorgenommen hatte, die Arbeiter aus dem wirtschaftlichen Elend heraus zu befördern. Dieser stand in direktem Zusammenhang mit der Industrie, mit der Lebensqualität, aber auch mit den sozial-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Werkeigentümern und ihren Mitarbeitern.



    Nach dem Wendemoment 1848, nach der Gründung und Konsolidierung des modernen rumänischen Staates in den Jahren 1859 und 1866 beginnt der Sozialismus immer mehr an Zielpublikum zu gewinnen. Die Entwicklung der Industrie schafft jene Sozialschicht, die die Ideen des Sozialismus immer mehr befürwortet. Die sozialistischen Publikationen Telegraful român“, erscheinen 1865, Uvrierul“, Lucrătorul român“, Analele tipografice“ und Contemporanul“ bildeten für die sozialistischen und revolutionären Intelektuellen einen Raum, in dem sie ihre eigenen Ideen bekannt machen konnten. Die bedeutendsten Namen waren die Gebrüder Ioan und Gheorghe Nădejde, Panait Muşoiu, Zamfir Arbore, Titus Dunca. Der rumänische Sozialismus erhielt eine starke Infusion an russischem Narodniki-Sozialismus durch die Volkspolitiker Constantin Dobrogeanu-Gherea, Nicolae Zubcu-Codreanu, N. Russel, alle Einwanderer, die vom zaristischen Regime für ihre Ideen verfolgt wurden.



    Dobrogeanu-Gherea, der berühmteste und einflussreichste rumänische Sozialismustheoretiker des 19. Jh., hatte eine äu‎ßerst schwierige Mission. Während er allen, die Sozialismus als fremd für den rumänischen Geist empfanden, eine Antwort liefern musste, war er auch gezwungen, die marxistische Theorie der Industriegesellschaft einer Agrargesellschaft anzupassen. Der Soziologe Călin Cotoi zeigt, welchen Platz die Sozialisten in dem Gedankenfeld der rumänischen Öffentlichkeit einnahmen und welche Rolle insbesondere Gherea spielte:



    Der Fall Gherea ist besonders interessant, weil man bei ihm sehr stark die Spannung zwischen der Theorie der Formen ohne Inhalt und der marxistischen Theorie empfand. Die Mehrheit von Ghereas Argumenten hatte ein sehr deutliches Ziel und zwar die Existenz eines lokalen Sozialismus zu legitimieren. Für ihn war die Kritik an den rumänischen Sozialismus eine, die man durch die Formel »in Rumänien ist Sozialismus eine exotische Pflanze« zusammenfassen konnte. Mit anderen Worten waren Sozialisten seltsame Menschen, die aus revolutionärer und moralischer Sicht natürlich sehr sympathisch waren, die aber nichts zu sagen hatten. Bei den Rumänen schlug die Rethorik des Sozialismus keine Wurzeln. Ghereas recht interessante Strategie war, die Gesellschaft in etwas Exotisches umzuwandeln und den Sozialismus in etwas Normales. Die rumänische Gesellschaft war in der Auffassung Ghereas monströs, sie verkörperte für ihn eine neue Leibeigenschaft, was nicht der normalen Welt entsprach. Er sprach daher mit Nachdruck über eine abweichende rumänsiche Welt. Das grö‎ßte Problem, sagt Gherea, sei, dass man in der Bewertung der rumänischen Gesellschaft dieselben Begriffe wie im Westen verwenden müsse. Und diese bedeuten dort etwas und hier bei uns etwas ganz anderes. Er stellt sogar ein formales Prinzip auf, um die Abnormität der rumänischen Gesellschaft zu erläutern, und nennt es ‚Gesetz der sozialen Umlaufbahn‘.“



    Die Gründung der ersten rumänischen sozialistischen Partei, der Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei Rumäniens, am 31. März 1893, kam nur mühevoll zustande. Auch nach ihrer Gründung hatte die Partei kein besseres Schicksal. Vor dem Hintergrund, dass es kein allgemeines Wahlrecht gab, war die Wählerschaft der Partei sehr klein. Das Parteiprogramm wurde von Dobrogeanu-Gherea nach dem Programm von Erfurt der Sozial-Demokratischen Partei Deutschlands erarbeitet. Gherea dachte, dass die Form, also die Idee, schrittweise auch den Inhalt schaffen würde, also die kritische Masse an Wählern. Călin Cotoi:



    Seine Strategie war, die rumänische Gesellschaft als etwas Exotisches darzustellen, deren Abnormität zu entdecken, um die Normalität der sozialistischen Einstellung gegenüberzustellen, was teilweise auch funktioniert. Zu einem gewissen Zeitpunkt sagt er: Der Sozialismus ist genauso wie der Liberalismus in Rumänien. Hätte es den Liberalismus nicht gegeben, hätte es kein modernes Rumänien gegeben. Sozialismus sei die nächste Stufe. Stellen Sie sich nur vor, sagt er, wie der Stand heute gewesen wäre, wenn die rumänischen Liberalen ihre Reformen 1770 statt erst 1848 eingeführt hätten. Das ist Ghereas Hauptargument. Interessant ist auch, dass Gherea, als er gewisserma‎ßen mit dem Rücken an die Wand gestellt wurde, mit den Argumenten der russischen Narodniki begründet hat, warum Sozialismus notwendig sei. Er sagte, dass Sozialismus eine Verpflichtung dem Arbeitervolk gegenüber sei, das uns und unsereins durch seinen Schwei‎ß ernährt, bekleidet und gro‎ßgezogen habe. Der Sozialismus Ghereas ist eher emotional und moralisierend. Was dem rumänischen Sozialismus der Jahrhundertwende entspricht, war eher eine Subkultur des Sozialismus. Es handelte sich um kleine Menschengruppen, die Naturwissenschaften in emotionaler Weise betrieben. Bei einem Blick in die sozialistische Zeitung »Contemporanul« stellt man fest, dass es dort viele naturwissenschaftliche Artikel gibt. Es handelt sich also um eine Mischung von Emotionalität, Naturwissenschaften, Moralität und sozialem Wandel.“



    Trotz der beträchtlichen Bemühungen blieben die Sozialdemokratie und deren Partei in Rumänien bis nach dem Ersten Weltkrieg eher eine Randerscheinung der hiesigen Politik. Linkes Gedankengut wurde im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert vielmehr als eine Leidenschaft einiger verträumter Intellektueller und weniger als ernstzunehmende Lösung betrachtet.



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