Tag: Radu Apostol

  • Europäisches Theaterfestival in Temeswar: Themenvielfalt und Innenleben

    Europäisches Theaterfestival in Temeswar: Themenvielfalt und Innenleben

    Es war bereits die 23. Auflage des Bühnenfestivals in der westrumänischen Gro‎ßstadt, und nachdem sie viele Jahre die Szene begleitete, kann die Theaterkritikerin Oana Borş von einer Evolution in der rumänischen Dramaturgie berichten — und über ein gewisses Starsystem, das sich schon etabliert hat: Es ist eine Entwicklung in kleinen Schritten, aber Leute, die die Szene beobachten, sehen das. Es geht in erster Linie um eine Erweiterung der Themenvielfalt — man konzentriert sich weniger auf die Beleuchtung gro‎ßer sozialer Themen, sondern erforscht auch das Innenleben und das Verhältnis zwischen Mitmenschen im engeren Sinne. Zudem haben wir bereits Dramaturgen, die einen bestätigten Erfolg haben — Csaba Székely, Mihaela Michailov und Radu Apostol, die auch seit geraumer Zeit zusammenarbeiten“, sagt die Kritikerin, die auch die Stücke für das Festival in Timişoara (Temeswar) auswählte.



    Und tatsächlich beleuchtet ein Stück wie Siebenbürgische Geschichte“, nach einem Text von George Ştefan und in der Regie von Andi Gherghe, die intimsten Gefühle einer Mischfamilie — der Autor geht von einer wirklichen Story aus und berichtet über das Zusammenleben von Magyaren und Rumänen im siebenbürgischen Schmelztiegel der Nationen. Das Stück verfolgt die Familiengeschichte über mehrere Generationen, setzt aber einen Schwerpunkt auf die schweren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gemeinden vom 19.–21. März 1990 in Târgu Mureş. Das Stück wird zweisprachig aufgeführt und für die Darsteller war es eine zum Teil verstörende Erfahrung. Richard Balint spielt den Geheimdienstler Ştefan Remeş, einen Rumänen, der im Kommunismus seinen ungarischen Mitbürger István Szabados verhört und inhaftiert. Den Part des Szabados übernahm Gyula Kocsis. Beide Schauspieler haben ähnliche Erfahrungen wie die ihrer Figuren gemacht, erzählt Richard Balint: Ich bin gewisserma‎ßen auch ein rumänisch-ungarisches Produkt. Mein Vater war Ungar, meine Mutter Rumänin und ich habe auch solche Dinge erlebt. Ich habe in meinem Heimatort zweimal Prügel kassiert — das kam dort vor. Und 1990 im März passierte auch was. Keine Gewalt unbedingt, aber die Menschen, sogar Freunde oder Nachbarn, begannen Angst vor uns zu haben“, schildert Richard Balint die Lage in seiner Stadt Cugir — also nicht einmal in Târgu Mureş selbst, wo es zu den gewaltsamen Zusammenstö‎ßen kam. Für seinen Kollegen Gyula Kocsis war die Rolle noch ein Stückchen unheimlicher. Denn genau wie seine Figur musste sein eigener Vater in Oradea für 11 Monate ins Gefängnis, weil er über die Grenze flüchten wollte.



    Genauso beeindruckend waren die Erfahrungen, die im Stück Shakespeare für Ana“ zur Sprache kamen. Das Coliseum-Zentrum in Chişinău, der Hauptstadt der Republik Moldau. Es geht um eine Art Theaterdokumentation, in der Straftäter aus moldauischen Anstalten interviewt wurden — auch Frauen und Jugendliche. Text und Regie stammen von Luminiţa Ţâcu — seit langer Zeit beschäftigt sie das Thema der Menschen im Gefängnis: In 2008 habe ich das Stück »Haus M« gemacht, wo ich den Monolog einer Frau einbaute, die ihren Mann umgebracht hatte. Eine Zeitlang verging und ich fragte mich, was mit den Frauen passiert war, die ich im Gefängnis von Rusca interviewt hatte. Ich fragte mich, wie diese Frauen ohne Liebe auskommen können — das war die Grundidee“, sagt die moldauische Dramaturgin. Sie besuchte anschlie‎ßend drei Gefängnisse und unterhielt sich mit Insassen und Beamten vom Wachpersonal. Auch nach diesem Stück blieb ein bitterer Nachgeschmack, gesteht Luminiţa Ţâcu — man hat Gewissensbisse, weil in dieser Welt hinter Gittern Menschen zurückbleiben, die nach Liebe dürsten, während man selbst frei ist.



    Die europäische Komponente kam auch gut zum Tragen, sagt die für das Programm zuständige Kritikerin Oana Borş. Der in Europa gut bekannte Regisseur Milo Rau kam mit einem Stück, das seine Truppe mit dem nicht minder bekannten Berliner Ensemble Schaubühne aufführte: ein Doku-Drama zum Thema Migration. Dabei treten zwei Syrer, die seit längerer Zeit in Europa leben, in einen Bühnendialog mit der rumänischen Stardarstellerin Maia Morgenstern und einem griechischen Kollegen. Und Luk Perceval führte mit seinem Thalia-Theater Steinbecks Früchte des Zorns“ aus moderner Perspektive auf, eine Analyse zu Exil und Identität — ganz viel Europa also, findet Programmchefin Oana Borş.

  • Internationale Theater-Plattform in Bukarest: Sinnieren über die Familie

    Internationale Theater-Plattform in Bukarest: Sinnieren über die Familie

    Die zeitgenössische Familie stand in den letzten Tagen im Mittelpunkt der Ereignisse, die im Rahmen der 2. Auflage der Internationalen Theater-Plattform Bukarest organisiert wurden. Warum Plattform“? Weil die Gründer, der rumänische Verband für die Förderung der Aufführungs-Künste ARPAS, sich nicht ein einfaches Festival gewünscht hat, sondern einen Vorwand für ein Gespräch. Cristina Modreanu, Kuratorin des Events, berichtet:



    Der Begriff ‚Plattform‘ drückt das Wesentliche dieses Dialogs, den wir starten wollten, aus. Die Aufführungen präsentieren aus verschiedenen Blickwinkeln das Thema oder stellen es zur Debatte, ohne Lösungen zu geben. Sie sagen nur die Geschichte einiger Familien von gestern und heute und stellen sich vor, wie diese morgen aussehen werden. Durch dieses Beispiel, das die Künstler bringen, wollen wir ein Gespräch über das in Szene setzen, was heutzutage noch eine ‚normale Familie‘ bedeutet, über die Familien-Arten, die wir um uns herum sehen. Schlicht und einfach wollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Familie von heute, die Familie des 21. Jahrhunderts unterschiedliche Formen nehmen kann, nicht nur die traditionelle Form.“




    Unter den eingeladenen rumänischen Aufführungen war auch die unabhängige Produktion Die Offline-Familie“ von Mihaela Michailov, in der Regie von Radu Apostol. Eine Aufführung über ein in Rumänien sehr aktuelles Thema ein Zeugnis ablegt: die Kinder, um die sich die Gro‎ßeltern, ältere Geschwister oder sogar Nachbarn kümmern, weil die Eltern im Ausland arbeiten. Weitere drei rumänische Aufführungen, die im Rahmen der Internationalen Theater-Plattform in Bukarest gezeigt wurden, wurden von ARPAS in Zusammenarbeit mit dem Odeon-Theater, dem Teatrul Foarte Mic (Sehr Kleinen Theater) und dem Komödien-Theater produziert. Cristina Modreanu mit weiteren Einzelheiten:



    Die drei Stücke, deren Inspirationsquelle Stücke von Ibsen waren, betrachten das Thema der Familie aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus der Perspektive der Frau, die ihre Familie verlassen hat, im Falle des Stückes »Ich. Ein Puppen-Haus«, eine egozentrische Formel, die in der zeitgenössischen Welt oft zu finden ist. Mehr und mehr Frauen denken an eine Karriere, an ein möglichst erfülltes Berufsleben, und wegen dieses Wunsches stellen sie möglicherweise die Familien auf den zweiten Platz. Wir müssten akzeptieren, dass dies ihre Wahl ist und dass sie ein Recht darauf haben. Das Stück »Ibsen Incorporated« beinhaltet fünf weibliche Typologien, die unterschiedliche Einstellungen zur Familie haben. Jede fühlt aber diese soziale Erwartung, dass die Frauen den Ehemann und die Kinder auf den ersten Platz stellen müssen. Das Stück »Der Volksfeind« betrachtet die Familie aus der Perspektive der Gemeinde, also einer erweiterten Familie, einer Gemeinde, die sich der Gefahren bewusst werden muss, sich organisieren muss und sich gegen diese Gefahren verteidigen muss.“




    Die Familie war auch das Thema der beiden eingeladenen ausländischen Aufführungen: O Jardim/ Der Garten“ und Hallo, Hitler!“. O Jardim“ ist eine Produktion der brasilianischen Theatergruppe Hiato“, die vom Regisseur und Dramaturgen Leonardo Moreira gegründet wurde. Das Stück verfolgt das Leben dreier Generationen derselben Familie. Hallo, Hitler“ von Lucie Pohl ist eine autobiographisches Stück. Lucie Pohl wurde in Deutschland geboren und lebt zurzeit in New York. Sie hat deutsche und jüdische Wurzeln und Verwandte beider Eltern hat während der Nazi-Zeit zu leiden. Lucie Pohl ist die Tochter der berühmten Sängerin Sanda Weigl, die in Rumänien geboren wurde, und des bekannten deutschen Darstellers und Dramaturgen Klaus Pohl.