Tag: Simona Sora

  • Geokritik: Bukarest durch die Augen von Schriftstellern erkundet

    Geokritik: Bukarest durch die Augen von Schriftstellern erkundet

    Andreea Răsuceanu leistet sich eigentlich ein Buchexperiment über die unerschöpflichen Wechselwirkungen zwischen der Stadt und ihrer literarischen Projektion. Sie pendelt dabei zwischen dem Blick des Autors und jenem des Lesers, zwischen den verschiedenen Deutungswelten. Als Geokritik bezeichneten Kollegen Răsuceanus diesen in Rumänien neuartigen Ansatz. Worum es ihr dabei ging, erläuterte die Kritikerin selbst: Mich hat die eigentliche Idee der Stadt interessiert — die Stadt als Konstruktion, als faszinierendes Objekt, als ein zweiter Körper, den wir nicht ignorieren können“, sagt Andreea Răsuceanu. Im Vorwort schreibt sie, dass sie bei dieser Literaturgeografie eine Doppelschiene verfolgt hat: Sie wolle einerseits den Lesern, die von zeitgenössischer Literatur begeistert sind, mithilfe der Texte der sechs Autoren einen neuen Blick auf die Stadt vermitteln. Andererseits war ihr Anliegen, Menschen, die an der Stadt und ihrer Geschichte interessiert sind, die sechs Autoren näher zu bringen.



    Das Buch thematisiert das Bild der Stadt Bukarest im Werk von sechs zeitgenössischen Autoren aus verschiedenen Generationen: Mircea Cărtărescu, Gabriela Adameşteanu, Stelian Tănase, Simona Sora, Filip Florian und Ioana Pârvulescu. Bukarest wird so zur literarischen Figur. Jedem Kapitel geht eine Diskussion der Kritikerin mit den Autoren voran — darin setzen sie sich mit der Betrachtungsweise auseinander, mit der Art und Weise, in der die Autoren ihr Verhältnis mit der Stadt ausleben: Auch dieses Verhältnis des Autors mit dem beschriebenen Raum schien mir interessant zu sein — es ist der Raum, den er täglich wahrnimmt und durch den er sich bewegt, oder der Raum der Vergangenheit. Bei Gabriela Adameşteanu gibt es so ausführliche Beschreibungen von Bukarest vor 1989, dass sie Studienmaterial für Anthropologen sein könnten“, glaubt Andreea Răsuceanu.



    Der Autorin Gabriela Adameşteanu, Jahrgang 1942, gelingen sehr detailreich rekonstruierte Bilder; ihr Werk ist voller Sinnesreize: visuelle, akustische, taktile Anhaltspunkte. Ihre Romanfiguren agieren perfekt im Takt der Stadt, sie reagieren auf die Au‎ßenwelt, auf die sie ihr Innenleben projizieren. Und umgekehrt wirkt die Stadt auf ihr inneres Universum ein. Einer der Autoren, in dessen Werk Bukarest eine vordergründige Rolle einnimmt, ist Mircea Cărtărescu. Er prägte in seiner Prosa, zuletzt im Roman Solenoid“ ein unverkennbares Bild der Stadt: Bukarest als Alter Ego, als Körper, als intuitiv wahrgenommener, entdeckter, mit allen Sinnen erforschter Raum: Mircea Cărtărescu nimmt — von mir unbeabsichtigt — den grö‎ßten Anteil des Buches ein. »Solenoid« erschien zu einem Zeitpunkt, als ich mich für den Schlussstrich meines Buches vorbereitete. Es war völlig unvorhersehbar, ich habe den Roman gelesen und erkannt, dass das Bild von Bukarest darin vervollkommnet wird“, führt die Kritikerin aus.



    In den Romanen von Mircea Cărtărescu erscheint die Stadt am spektakulärsten. Sie ist eine Verlängerung des eigenen Körpers, ein anatomisches Gebilde — verliert sie ein Gebäude, entspricht das einer Amputation vitaler Organe. Die Stadt nimmt dann die Rolle des Alter Egos ein: Am Anfang des ersten Teil des Romans Orbitor“, im Deutschen unter dem Titel Die Wissenden“ erschienen, sieht der kleine Mircea im Fenster der Plattenbauwohnung sein eigenes Spiegelbild, das sich über das Bild der Stadt einblendet. Diese Metapher wird zum Leitmotiv des gesamten Romans.



    Die Kritikerin Tania Radu meint über das Buch ihrer Kollegin Răsuceanu, dass es Bukarest in die Galerie der gro‎ßen postmodernen Städte stellt. Bukarest werde auf der Stelle les- und erschlie‎ßbar. Und liebenswert. Die Stadt erscheint im Menschenbilde, dessen magischer Kern unter überlagerten Schichten erforscht wird. Als Romanfigur per se oder als subjektiv von anderen Figuren erlebt“, schrieb Tania Radu in ihrer Rezension.

  • Bukarest: Gedächtnis und Stadterkundung

    Bukarest: Gedächtnis und Stadterkundung

    Memorie” (zu dt. Gedächtnis) ist ein Teilprojekt über das kollektive Gedächtnis Bukarests, das die Kandidatur der rumänischen Hauptstadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2021 offiziell macht. Das Projekt läuft an der Gabroveni-Herberge (Hanul Gabroveni), die jüngst restauriert wurde und nimmt die Form einer Trilogie an, die aus folgenden Teilen besteht: Memoria, Explorarea, Imaginarea Oraşului z.d. das Gedächtnis, die Stadterkundung und die Wahrnehmung der Stadt.



    Dabei wird die Stadt sowohl zum Handlungsraum, als auch zum Protagonisten. Bukarest war seinen Schriftstellern gegenüber gro‎ßzügig, hat ihnen erlaubt, sich von ihrem Kern, ihrer Quintessenz zu ernähren, manchmal in einer schmerzhaften Art, und lie‎ß sich ihrerseits, genau wie ein riesengro‎ßer Vogel, von den Schriftstellern ernähren, die über sie geschrieben haben. Sie haben sich dann Teile ihrer Körper weggeschnitten, damit sie der riesengro‎ße Vogel im Gegezug auf seinem Rücken hin und her transportieren kann. Die in Freunde und Feinde der Stadt geteilten Schriftsteller haben sie alle auch mit Gro‎ßzügigkeit und lauter Paradoxen belohnt. Sie haben Bukarest sowohl zum Handlungsraum, als auch zur Hauptfigur gemacht. Sie haben sie gleicherma‎ßen verehrt und verdammt.” Wir haben die Schriftstellerin Svetlana Cârstean zitiert, die Kuratorin der Literaturveranstaltungen, die an der Gabroveni-Herberge stattfinden. Die Schriftstellerin kommt mit Einzelheiten zum Veranstaltungsplan zu Wort:



    Bis Mitte Mai läuft die Etappe Gedächtnis”. Im Vorfeld der Literaturveranstaltungen haben wir die Autoren streng ausgewählt. Wir schlugen den Schriftstellern vor, über Bukarest zu sprechen, während sie sich gegenüber sa‎ßen. Wir stellen sie einander gegenüber, um eine interessante Spannung zu schaffen. Sie bringen dabei widersprüchliche Ideen zum Ausdruck. Einige sagen, dass sie Bukarest ohne Vorbehalt lieben, andere sagen hingegen, dass sie sich gegenüber der Stadt fremd fühlen. Einige, dass sie sich nur hier zu Hause fühlen, während andere der Überzeugung sind, dass sie zu jeder Zeit diese Stadt verlassen könnten. Wir haben der Literatur ein dreitägiges Programm gewidmet. Bei einer der Veranstaltungen waren die Schriftsteller Ioana Pârvulescu und Răzvan Petrescu zu Gast, wobei das Gespräch von der Literaturkritikerin Florina Pârjol moderiert wurde. Dann kam die Debatte Adrian Schiop–Mihai Duţescu, moderiert vom Kritiker Paul Cernat. Alle Schriftsteller, die sich an diesem Projekt beteligen, haben bislang in ihren Prosawerken den Beweis einer äu‎ßerst tiefen Beziehung zu Bukarest gemacht. Eine andere Debatte stellte die Schriftstellerinenn Gabriela Adameşteanu und Simona Sora gegenüber. Das Gespräch wurde von der Literaturkritikerin Andreea Răsuceanu moderiert. Andreea Răsuceanu möchte ich allerdings zu einer Konferenz einladen, weil sie sich als ausgezeichnete Expertin der literarischen Geographie erweist. Sie arbeitet derzeit an einem Buch zum Thema: Bukarest in der zeitgenössischen Literatur, von Mircea Cărtărescu zu Simona Sora.”




    Im Rahmen des Projektes “Gedächtnis” fand auch ein Gedichtmarathon, moderiert von Svetlana Cârstean, statt, woran sich Adela Greceanu, Florin Iaru, Octavian Soviany, Miruna Vlada und Elena Vlădăreanu beteiligten. Die Kuratorin des Events mit weiteren Einzelheiten: “Jeder dieser Schriftsteller hat eingewilligt, seiner persönlichen Beziehung zu Bukarest Ausdruck zu verleihen. Unser Treffen führte folglich zu einem au‎ßergewöhnlichen Resultat und ich möchte das Projekt fortsetzen, weil es so viele Schriftsteller gibt, deren persönliche Erfahrung und Beziehung zu Bukarest ich kennenlernen möchte. Das ist aber nur eines der Projekte. In der Gabroveni-Herberge gibt es auch eine Ausstellung, die ich sehr lieb beigewonnen habe und die mir in der rumänischen Kulturlandschaft wie etwas ganz Au‎ßergewöhnliches vorkommt.



    Es handelt sich um ein kleines Archiv mit alten Bukarest-Fotos. Jeder kann sich eines davon wählen, beim Infokiosk einscannen lassen, und es dann in einem anderen Ausstellungsraum an die Wand kleben und daneben schreiben, was für Erinnerungen das besagte Foto bei ihm weckt. Viele Besucher und auch Schriftsteller haben unseren Vorschlag mit voller Begeisterung angenommen. ”Der erste Teil der der rumänischen Hauptstadt gewidmeten Trilogie, das Gedächtnis der Stadt” nimmt sich vor, eine kognitive und affektive Karte Bukarests zu schaffen. Die Organisatoren spornen die Einwohner dazu an, sich mit Bildern und Videos aus persönlichen Sammlungen, die verschiedene Ausschnitte aus Dokumentationen ergänzen, am Projekt aktiv zu beteiligen. Die Bukarester haben somit auch die Gelegenheit, ihre persönliche Beziehung zu ihrer Stadt zum Ausdruck zu bringen. Svetlana Cârstean erläutert:



    Der Prozess des Gedächtnisses” begann mit ein paar Menschen und wird, meiner Ansicht nach, mit deutlich mehr weitermachen. Darin liegt auch eines der Ziele unseres Projektes und eines der Kriterien, aufgrund derer jede Kandidatur ausgewertet wird: eine möglichst aktive und glaubwürdige Mobilisierung der Gemeinde. Ich wünsche mir, dass nicht nur Künstler über ihr eigenes Bukarest erzählen, selbst wenn dieser Aspekt beim Publikum viel Neugier weckt. Ich fand besonders interessant, als der Prosaschriftsteller Adrian Schiop sagte: wenn ich Geld haben werde, werde ich mir eine Wohnung im Randviertel Ferentari kaufen. Oder wenn jemand anderes darauf erwiderte, dass er möglichst weit weg von Bukarest gehen möchte. Ich bin selber nicht in Bukarest geboren, ich wuchs in Botoşani auf und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich auf dem Land bei meinen Gro‎ßeltern. Ich habe also dieses Trauma, mich in einer Stadt einzuleben, zweimal erlebt: einmal als ich nach Botoşani zog, selbst wenn Botoşani eine kleine Stadt ist, und dann als ich in die Metropole Bukarest zog. Ich lebe seit 27 Jahren in Bukarest, theoretisch könnte ich sagen, dass ich mich hier zu Hause fühle. Ich fühle mich dennoch nicht richtig wie zu Hause, die Stadt hat mich mittlerweile nicht komplett adoptiert. Ich habe verschiedene Entwicklungsstadien Bukarests miterlebt, in zahlreichen und voneinander total unterschiedlichen Vierteln gewohnt. Ich glaube, dass mir dieses Projekt die ganze Zeit Überraschungen bereiten wird und es wird mir klar, dass ich mich gegenüber dem Subjekt neu positionieren muss.”




    Es besteht die Möglichkeit, dass sich Bukarest im Jahr 2021 der langen Liste der europäischen Kulturhauptstädte anschlie‎ßt. Der nationale Wettstreit der Städte, dessen Gewinner Rumänien dabei vertreten wird, startete im Dezember 2014. Um den Titel kämpfen auch Cluj-Napoca (Klausenburg), Timişoara, Iaşi, Craiova, Arad, Sfântu Gheorghe, Oradea, Alba Iulia (Karlsburg), Brăila und Braşov (Kronstadt).