Tag: Sozialismus

  • „L’homme qui n’adhère à rien“ – die ideologischen Irrwege des Panait Istrati

    „L’homme qui n’adhère à rien“ – die ideologischen Irrwege des Panait Istrati

    Panait Istrati hat sich als junger Schriftsteller der kommunistischen Bewegung angeschlossen. Er ist auch einer der Intellektuellen, der sich nach einem kurzen Besuch in der Sowjetunion von dieser politischen Ideologie abwendet. Der Politikwissenschaftler und Publizist Ioan Stanomir erläutert den politischen und intellektuellen Werdegang des Schriftstellers:



    Die Beweggründe seiner Hinwendung in jungen Jahren zum Kommunismus ist — genau wie bei anderen Intellektuellen der Zeit in Europa — die Unzufriedenheit mit der damaligen sozialen Ordnung. Wie dürfen nicht vergessen, dass Panait Istrati erstens ein Sozialist war, ein Anhänger und guter Bekannter des bulgarischen Revolutionärs Christian Rakowski, ein Zeuge der Streiks, die Anfang des 20. Jahrhunderts unterdrückt wurden. Nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass Istrati aus bescheidenen, ja prekären Verhältnissen stammte. Das alles mag ihn in seiner späteren Befürwortung des Kommunismus beeinflusst haben. Eine ausschlaggebende Rolle spielte dabei aber auch die Tatsache, dass er mit französischen Intellektuellen Kontakte knüpfte. Im französischen Kulturmilieu galt er als ein wahrer Gorki des Balkans, als Stimme der Verfolgten und Unterdrückten. Nicht zufällig habe ich den Vergleich mit Gorki erwähnt, die Schicksale Panait Istratis und Maxim Gorkis unterscheiden sich auf den ersten Blick voneinander, im Grunde genommen sind sie sich jedoch sehr ähnlich. Istrati war zunächst ein Kommunist, wurde dann aber von der Realität desillusioniert und folgte dem Weg der Nüchternheit, während Gorki hingegen ein Freund und Befürworter der Bolschewiken und Lenins war, der in einer ersten Etappe des Bolschewismus dennoch ins Exil ging. Später kehrte er in sein Heimatland zurück und schloss sich der Ideologie von Stalin an. Istrati und Gorki haben doch etwas gemeinsam: einen europäischen Ruhm und ein ideologisches Engagement, das Bild eines Schriftstellers, der die Berufung hat, den Bedürfnissen der Menschen, aus deren Milieu er selber stammt, Ausdruck zu verleihen.“




    1927 besuchte Istrati Moskau und Kiew. 1929 reist er wieder in die Sowjetunion und das ist der Zeitpunkt, an dem er den Schleier vor den Augen fallen lässt. Dem jungen Intellektuellen wird dann klar, dass das kommunistische Regime seine Worte nicht in Taten umsetzte. In seinem politischen Reisebericht Vers lautre flamme. Confession pour vaincus“ (rumänischer Titel: Spre o altă flacără”, deutscher Titel: Auf falscher Bahn. Geständnisse für Besiegte“), erschienen in französischer Sprache, prangert er den Totalitarismus der kommunistischen Ideologie an. Nachdem das Buch veröffentlicht wird, sieht sich der Schriftsteller Faschismus-Vorwürfen ausgesetzt. Dazu Ioan Stanomir:



    In zahlreichen Fällen war eine Reise in die Sowjetunion in der Regel kein Anlass, sich vom Kommunismus abzuwenden, sondern hingegen ein Anlass, sich in diese Ideologie weiter zu vertiefen. Die Ausnahmen bestätigen aber die Regel und es gibt wenige Intellektuelle der Zeit, die die Kraft finden, diesen ideologischen Schleier über die Augen zu lüften. Der englische Schriftsteller Herbert George Wells hat beispielsweise die Sowjetunion besucht und die Reise wirkte sich überhaupt nicht auf seine Weltanschauung aus. Es gibt zwei Namen, die hingegen ein gutes Beispiel für die Ernüchterung darstellen: Panait Istrati und André Gide. Die beiden sind nach Moskau gereist und haben Bücher geschrieben, die sie in heikle Situationen ihren Kampfgenossen gegenüber brachten. Nachdem Istrati »Auf falscher Bahn« geschrieben hatte, wurde ihm vorgeworfen, er würde den antifaschistischen Kampf verraten und eine Verleumdungskampagne gegen die Sowjetunion führen.“




    Panait Istrati prangert aber die Verbrechen von Stalin, nicht die kommunistische Ideologie an. Er bleibt ein Anhänger von Trotzki und gilt als einer der Intellektuellen, die nach einer reinen, unbefleckten Seele der Revolution“ suchten. Ioan Stanomir ist der Ansicht, dass Istrati eigentlich nur dem Stalinismus den Rücken kehrt:



    Trotzki war ein bewaffneter Prophet, der gegen sein eigenes Volk vorging. Die rote Armee, die Trotzki gegründet hatte, war ein Unterdrückungsinstrument gegen das russische Volk. Die rote Armee hat im russischen Bürgerkrieg die Bauern vernichtet. Trokzi stellte die antibürokratische und antitotalitäre Alternative aus Sicht der radikalen Linken dar. Istrati wendet sich von der politischen Ideologie Lenins ab, weil er einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Leninismus aus Sicht der Linken und dem Stalinismus aus Sicht der antistalinistischen Linken merkt. Istrati streift seine linksextremistischen Überzeugungen niemals ab, sieht aber ein, dass Stalins Russland die Prinzipien Lenins nicht einhält. Genau wie andere Intellektuelle lässt sich Panait Istrati täuschen, dass der Leninismus unterschiedlich vom Stalinismus und dass der Leninismus kein totalitäres Regime sei.“




    Wie hat das kommunistische Regime in Rumänien den Schriftsteller für seine Zwecke instrumentalisiert? Dazu Ioan Stanomir:



    Panait Istrati wird in den 1960er Jahren in Rumänien ideologisch ausgeschlachtet. Es war kein Zufall, dass gerade in jenen Jahren die rumänisch-französische Kooperation in vielen Bereichen ausgebaut wurde. Aus der Zeit stammt die rumänisch-französische Film-Koproduktion »Codin«, die auf einem Text von Istrati beruht, ebenso die Verfilmung seines Romans »Die Disteln des Baragan«. Bei der Wiederanspornung der Beziehungen zu Frankreich spielte sein literarischer Nachlass auf jeden Fall eine ausschlaggebende Rolle. Istrati war ein geistiges Kind Frankreichs, ein balkanischer Gorki, der von dem linken Kulturmilieu Frankreichs gefördert wurde. Zu jenem Zeitpunkt waren zahlreiche französische Kommunisten nach Rumänien gekommen, Regisseure aus Frankreich machten sich für eine volksdemokratische Filmkunst in Rumänien stark. Zahlreiche Werke Istratis wurden dann ins Rumänische übersetzt, weil ein guter Teil ursprünglich auf französisch verfasst worden war. Wenn man einen Blick in die rumänischen Werkausgaben jener Zeit wirft, ist die Interpretation seines Lebenslaufes im Vorwort ebenfalls aufschlussreich: Istratis Abkehr vom Stalinismus sei zwar ein gravierender zeitweiliger Fehler gewesen, den er jedoch durch seine Verdienste um die Arbeiterbewegung wieder gut zu machen vermocht habe.“




    1933, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Panait Istrati den Essay L’homme qui n’adhère à rien“ (zu dt. in etwa Der Mensch, der sich zu nichts verpflichten lässt“), in dem er dem Stalinismus erneut eine Absage erteilte und seine Unabhängigkeit innerhalb linker Ideologien betonte.

  • Comics im sozialistischen Rumänien

    Comics im sozialistischen Rumänien

    Die komischen Bildergeschichten waren eine Form der westlichen städtischen Pop-Kultur, die auch im kommunistischen Rumänien ihre Liebhaber hatte. Das Regime vom damals veröffentlichte zwar rumänische Bildergeschichten-Zeitschriften, beliebter waren aber die ausländischen Comics.



    Die komischen Bildergeschichten hatten im Kommunismus unter der Zensur zu leiden. Im sozialistischen Rumänien war die Zeitschrift Cutezătorii“ (in etwa: Die Tapferen“, Die Wagemutigen“) die wichtigste Propaganda-Zeitschrift für Kinder unter 14. Bei mehreren Generationen rumänischer Kinder war allerdings die französische Zeitschrift Pif Gadget“ sehr beliebt. Ioan Stanomir, Bildgeschichten-Historiker gibt uns darüber Auskunft:



    »Pif Gadget« ist eine der seltsamsten Geschichten des Kalten Kriegs. Es ist eine Zeitschrift, die auf den Ruinen der Zeitschrift »Vaillant« aufgebaut wurde. Es ist eine Zeitschrift, die wie auch die »Cutezătorii« zwiespältig war: Es war eine Bildergeschichten-Zeitschrift, zugleich aber auch eine Propaganda-Zeitschrift der Französischen Kommunistischen Partei. Die Einführung von »Pif Gadget« in den kommunistischen Raum, insbesondere in Rumänien, war möglich, weil die Beziehungen zwischen Rumänien und Frankreich nach 1965-1968 eng wurden. Es ist eine Beziehung, die auf mehreren Ebenen aufgebaut wurde. Es beruhte auf dem offiziellen De-Gaulle-Regime in Frankreich, aber auch auf der kommunistischen Subkultur und der Gegenkultur. So ist auch die Existenz von Kino-Koproduktionen zu erklären. Französische Bücher aus der Taschenformatedition »Livre de poche« und französische Filme wurden eingeführt, es wurde diese Zeitschrift eingeführt, die vielleicht ungewöhnlichste Präsenz bei uns. Durch diese Zeitschrift kam man in Kontakt mit der französischen Kultur und mit der westlichen Pop-Kultur. Drittens kam man in Berührung mit einer Kultur, die für uns ungewöhnlich war, mit der Bildergeschichten-Kultur. Generationen von Kindern haben die Zeitschrift gelesen und dabei spontan und naiv Französisch gelernt. Sie haben entdeckt, dass es Superman gibt. Als dann später Superman im rumänischen Fersehen zu sehen war, kannten ihn schon die Kinder und Jugendlichen aus der Zeitschrift Pif Gadget.“




    Ein anderer wichtiger Held der Bildergeschichten war Rahan. Ioan Stanomir dazu:



    Rahan ist den Pif-Liebhabern auch bekannt. Er ist eine Kult-Gestalt, die man aus der Perspektive der amerikanischen und westlichen Pop-Kultur verstehen kann. Rahan ist ein Mensch vom Anfang der Welt. Er ist eine Bindeglied zwischen den Menschen, die noch keine eigentlichen Menschen sind, und den Menschen, die Menschen sein werden. Er ist den Gestalten ähnlich, die wir heute in amerikanischen Filmen wie 10.000 BC« sehen. Er ist ein Mensch, der mit Höhnlentigern, mit Mammuten kämpft, er ist ein Mensch, der die anderen lehrt, die Menschheit zu entdecken. Er ist eine Art Prometheus, der seine Aufgabe nicht kennt. Rahan ist eine der Kult-Gestalten, viele rumänische Bildgeschichten-Fans halten noch die Erinnerung an ihn wach. Ursprünglich steht Rahan in Verbindung zu Tarzan. Tarzan ist im Gedächtnis des Westens geblieben. Es ist ein Wei‎ßer, der auf einem schwarzen Kontinent seine Stellung ignoriert. Es ist eine Art Paternalismus, ein Wei‎ßer in Beziehung zu Schwarzen, die am Anfang der Zivilisation stehen. Pif war aber bestimmt keine rassistische Zeitschrift, weil die Ideologie der westlichen Linke nicht mit dem Rassismus reimte. Das war gut, denn es hat die Kinder gelehrt, dass es auch in der Elfenbeinküste, in Marokko, Frankreich, Rumänien Kinder gibt, die Französisch sprechen. Du konntest dir einen Brief-Freund in diesen Ländern aussuchen. Ich glaube, der Kampf gegen den Rassismus ist ein erhabenes Ziel, abgesehen vom ideologischen Blickwinkel. Es ist wunderbar, dass ein Kind aus Rumänien mit einem Kind aus Marokko oder aus dem Senegal in Kontakt sein konnte. Diese Vermittlung kam über Pif.“




    Wir haben Ioan Stanomir auch gefragt, warum es keine rumänischen Bildgeschichten-Helden gegeben hat.



    Wenn wir die Zeitschrift »Cutezătorii« in die Schule brachten, haben wir diese zusammengerollt und uns damit gegenseitig auf den Kopf geschlagen. Ich habe die »Cutezătorii«-Zeitschrift nicht geliebt. Ich kann Ihnen aber sagen, was für Helden ich in der Pif-Zeitschrift kennen gelernt habe. Ein gibt eine ganze Galerie von Helden, angefangen mit Pif und Hercule. Dann existierten Rahan, Placid und Muzo, Leonard, Doc Justice. Diese haben wir adoptiert, als ob sie unsere Helden waren. Wir verstanden nicht alles, wussten aber, dass es einen Ort gibt, woher die schön verpackten Zeitschriften kommen. Sie kamen mit wunderbaren Überraschungen und machten uns glücklich. Die Kinder träumten davon, diese Gadgets, die eigentlich die westliche Konsumkultur verkörperten, zu bekommen. Man wollte nicht die kommunistische Pionier-Krawatte, sondern schmackhafte Bonbons, nicht die faden rumänischen Bonbons. Die westliche Konsumkultur drang durch, weil es sich um eine farbige und schmackhafte Welt handelte. Vielleicht verstehen das die Jugendlichen von heute nicht. Es gab einen regelrechten Kult für die kubanischen Bonbons, es gab einen Kult für den Turbo-Kaugummi, der gut schmeckte. Der rumänische Kaugummi schmeckte nicht. Wir lebten in einer Welt von faden Klonen. Was interessierte mich der Kampf der Illegalisten? Wir hatten die französischen Illegalisten der französischen Widerstandsbewegung, die sympathischer waren. Die Pif-Zeitschrift hat — seltsamerweise und ungewollt — den Kapitalismus in Rumänien bekannt gemacht und nicht den Kommunismus unterstützt.“




    Die Geschichte der rumänischen sozialistischen Comics endete im Jahr 1989.

  • 120 Jahre rumänischer Sozialdemokratie

    120 Jahre rumänischer Sozialdemokratie

    Im Westen war Sozialismus am Anfang eine Idee und ein Programm zur Sozialreform, das sich vorgenommen hatte, die Arbeiter aus dem wirtschaftlichen Elend heraus zu befördern. Dieser stand in direktem Zusammenhang mit der Industrie, mit der Lebensqualität, aber auch mit den sozial-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Werkeigentümern und ihren Mitarbeitern.



    Nach dem Wendemoment 1848, nach der Gründung und Konsolidierung des modernen rumänischen Staates in den Jahren 1859 und 1866 beginnt der Sozialismus immer mehr an Zielpublikum zu gewinnen. Die Entwicklung der Industrie schafft jene Sozialschicht, die die Ideen des Sozialismus immer mehr befürwortet. Die sozialistischen Publikationen Telegraful român“, erscheinen 1865, Uvrierul“, Lucrătorul român“, Analele tipografice“ und Contemporanul“ bildeten für die sozialistischen und revolutionären Intelektuellen einen Raum, in dem sie ihre eigenen Ideen bekannt machen konnten. Die bedeutendsten Namen waren die Gebrüder Ioan und Gheorghe Nădejde, Panait Muşoiu, Zamfir Arbore, Titus Dunca. Der rumänische Sozialismus erhielt eine starke Infusion an russischem Narodniki-Sozialismus durch die Volkspolitiker Constantin Dobrogeanu-Gherea, Nicolae Zubcu-Codreanu, N. Russel, alle Einwanderer, die vom zaristischen Regime für ihre Ideen verfolgt wurden.



    Dobrogeanu-Gherea, der berühmteste und einflussreichste rumänische Sozialismustheoretiker des 19. Jh., hatte eine äu‎ßerst schwierige Mission. Während er allen, die Sozialismus als fremd für den rumänischen Geist empfanden, eine Antwort liefern musste, war er auch gezwungen, die marxistische Theorie der Industriegesellschaft einer Agrargesellschaft anzupassen. Der Soziologe Călin Cotoi zeigt, welchen Platz die Sozialisten in dem Gedankenfeld der rumänischen Öffentlichkeit einnahmen und welche Rolle insbesondere Gherea spielte:



    Der Fall Gherea ist besonders interessant, weil man bei ihm sehr stark die Spannung zwischen der Theorie der Formen ohne Inhalt und der marxistischen Theorie empfand. Die Mehrheit von Ghereas Argumenten hatte ein sehr deutliches Ziel und zwar die Existenz eines lokalen Sozialismus zu legitimieren. Für ihn war die Kritik an den rumänischen Sozialismus eine, die man durch die Formel »in Rumänien ist Sozialismus eine exotische Pflanze« zusammenfassen konnte. Mit anderen Worten waren Sozialisten seltsame Menschen, die aus revolutionärer und moralischer Sicht natürlich sehr sympathisch waren, die aber nichts zu sagen hatten. Bei den Rumänen schlug die Rethorik des Sozialismus keine Wurzeln. Ghereas recht interessante Strategie war, die Gesellschaft in etwas Exotisches umzuwandeln und den Sozialismus in etwas Normales. Die rumänische Gesellschaft war in der Auffassung Ghereas monströs, sie verkörperte für ihn eine neue Leibeigenschaft, was nicht der normalen Welt entsprach. Er sprach daher mit Nachdruck über eine abweichende rumänsiche Welt. Das grö‎ßte Problem, sagt Gherea, sei, dass man in der Bewertung der rumänischen Gesellschaft dieselben Begriffe wie im Westen verwenden müsse. Und diese bedeuten dort etwas und hier bei uns etwas ganz anderes. Er stellt sogar ein formales Prinzip auf, um die Abnormität der rumänischen Gesellschaft zu erläutern, und nennt es ‚Gesetz der sozialen Umlaufbahn‘.“



    Die Gründung der ersten rumänischen sozialistischen Partei, der Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei Rumäniens, am 31. März 1893, kam nur mühevoll zustande. Auch nach ihrer Gründung hatte die Partei kein besseres Schicksal. Vor dem Hintergrund, dass es kein allgemeines Wahlrecht gab, war die Wählerschaft der Partei sehr klein. Das Parteiprogramm wurde von Dobrogeanu-Gherea nach dem Programm von Erfurt der Sozial-Demokratischen Partei Deutschlands erarbeitet. Gherea dachte, dass die Form, also die Idee, schrittweise auch den Inhalt schaffen würde, also die kritische Masse an Wählern. Călin Cotoi:



    Seine Strategie war, die rumänische Gesellschaft als etwas Exotisches darzustellen, deren Abnormität zu entdecken, um die Normalität der sozialistischen Einstellung gegenüberzustellen, was teilweise auch funktioniert. Zu einem gewissen Zeitpunkt sagt er: Der Sozialismus ist genauso wie der Liberalismus in Rumänien. Hätte es den Liberalismus nicht gegeben, hätte es kein modernes Rumänien gegeben. Sozialismus sei die nächste Stufe. Stellen Sie sich nur vor, sagt er, wie der Stand heute gewesen wäre, wenn die rumänischen Liberalen ihre Reformen 1770 statt erst 1848 eingeführt hätten. Das ist Ghereas Hauptargument. Interessant ist auch, dass Gherea, als er gewisserma‎ßen mit dem Rücken an die Wand gestellt wurde, mit den Argumenten der russischen Narodniki begründet hat, warum Sozialismus notwendig sei. Er sagte, dass Sozialismus eine Verpflichtung dem Arbeitervolk gegenüber sei, das uns und unsereins durch seinen Schwei‎ß ernährt, bekleidet und gro‎ßgezogen habe. Der Sozialismus Ghereas ist eher emotional und moralisierend. Was dem rumänischen Sozialismus der Jahrhundertwende entspricht, war eher eine Subkultur des Sozialismus. Es handelte sich um kleine Menschengruppen, die Naturwissenschaften in emotionaler Weise betrieben. Bei einem Blick in die sozialistische Zeitung »Contemporanul« stellt man fest, dass es dort viele naturwissenschaftliche Artikel gibt. Es handelt sich also um eine Mischung von Emotionalität, Naturwissenschaften, Moralität und sozialem Wandel.“



    Trotz der beträchtlichen Bemühungen blieben die Sozialdemokratie und deren Partei in Rumänien bis nach dem Ersten Weltkrieg eher eine Randerscheinung der hiesigen Politik. Linkes Gedankengut wurde im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert vielmehr als eine Leidenschaft einiger verträumter Intellektueller und weniger als ernstzunehmende Lösung betrachtet.



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  • Sozialistisches Gedankengut in Rumänien Ende des 19. Jh.

    Sozialistisches Gedankengut in Rumänien Ende des 19. Jh.

    Um das Jahr 1900 suchten die rumänischen Intellektuellen nach einer Lösung für die Probleme der Landwirte. Die Bevölkerung Rumäniens bestand damals zu 80% aus Bauern. Diesen sollte geholfen werden, aus der Armut herauszukommen. Der wichtigste Teil der rumänischen Elite war Anhänger der nationalen Idee, der Emazipation durch die Pflege der nationalen Identität. Diese Gedankenschule stützte sich vor allem auf kulturelle Elemente. Doch auch sozialistische Ideen hatten ihre Befürworter.



    Eine Minderheit der Intellektuellen war der Ansicht, dass die Wirtschaft und die soziale Emanzipation eine wichtigere Rolle spiele. Unter dem Einfluss des Sozialismus und des Marxismus hatten diese nicht nur gegen ihre konservativen Gegner zu kämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die ihre Ideen, aber nicht ihre Lösungen unterstützten.



    Die nationale Idee war jedoch stärker, auch wenn um das Jahr 1900 sowohl der Nationalismus als auch der Sozialismus blühten. Der Soziologe Călin Cotoi von der Bukarester Soziologie-Fakultät erklärt, warum sich die nationale Idee durchsetzte:



    Wir haben es hier mit einer Art Ereignis, das eigentlich kein Ereignis darstellt, zu tun. Das Soziale erscheint nicht als Problem. Es handelt sich um eine rasche Nationalisierung des Sozialen, bevor es ein Problem wurde. Das geschah innerhalb der sozialistischen Disputen der Epoche. Wegen dieser raschen Nationalisierung infolge des Disputs zwischen den Poporanisten (abgeleitet von rum. ‚popor‘ = Volk) und den Marxisten kam es zur Entstehung einer nationalisierten sozialen Idee mit einer ethnischen Komponente. Als dann in der Zwischenkriegszeit das soziale Programm erscheint, ist es auf diese Periode zurückzuführen. Die Technokraten der Gusti-Schule oder der demographischen Schule von Sabin Manuilă und der Klausenburger Schule von Moldovan setzten die Diskussionen von 1900 fort.“



    Die beiden wichtigen Bewegungen, die sich für die Emanzipation der Landwirte einsetzten, waren der Marxismus und der Poporanismus. Obwohl beide Bewegungen peripherisch waren, konnten sie meistens keine gemeinsamen Punkte finden. Der Sozialismus hatte keinen gro‎ßen Einfluss in den Reihen der Landwirte.



    Der Marxismus wurde insbesondere von Constantin Dobrogeanu-Gherea vertreten. Er kam als Solomon Katz in einer jüdisch-ukrainischen Familie zur Welt, flüchtete nach Rumänien und wurde in Bukarest zu einem der einflussreichsten sozialistischen Theoretiker. Dobrogeanu-Gherea veröffentlichte mehrere Bücher, darunter auch eine marxistische Analyse der wirtschaftlichen Lage der Landwirte. Sein Gegner war ebenfalls ein Flüchtling, der aus Bessarabien stammende Constantin Stere. Dieser brachte die Ideen der russischen Narodniki nach Rumänien. Zusammen mit dem Literaturkritiker Garabet Ibrăileanu gründete er nach dem russischen Vorbild den Poporanimus. Der Soziologe Călin Cotoi dazu:



    Die Mehrheit der rumänischen Sozialisten entstammt — abgesehen von einer kleinen Minderheit mit einer französisch-belgischen Orientierung — dem russischen Projekt der Narodniki, der Volksfreunde. Die rumänischen Volksfreunde wollten aber nicht als russische Narodniki angesehen werden. Die rumänischen Poporanisten versuchen, sich von den Russen zu distanzieren. Stere hat Texte, die fast identisch mit denen von Nikolai Michailowski sind. Er zitiert aber Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Karl Marx, deutsche Neopositivisten. Seine Literaturangaben sind überwiegend deutsch.“




    Die Beziehung zwischen den Intellektuellen und den Landwirten war wesentlich, der Vergleich mit dem Westen, der wirtschaftlich entwickeltesten Region, und die Überwindung der Gegensätze zwischen Fortschritt und Tradition waren wichtige Programm-Punkte. Călin Cotoi erläutert:



    Es ist interessant, den rumänischen Fall in diesem russischen Kontext zu betrachten. Der Poporanismus spielt, meiner Meinung nach, eine viel geringere Rolle in der Modernisierung der sozialen Idee. Es gibt zwei Dimensionen des Poporanismus, die man verstehen muss. Zum einen den theoretischen Weg, darauf bezieht sich insbesondere Constantin Stere — auch bei seinen Disputen mit den Marxisten. Die andere Dimension ist der diffuse Poporanismus, der, wie die Bewegung der Narodniki, Elemente der genossenschaftlichen Bewegung, die Entstehung von Banken und Unterstützung der ländlichen Kreditaufnahme umschlie‎ßt. Diese entwickeln sich nur wenig und werden vom Staat übernommen und zerstört. Die Übernahme der Bewegung der russischen Volksfreunde von Russland nach Rumänien bedeutet die Transplantation einer Bewegung aus einem Imperium in einen Rahmen, in dem gerade eine Nation aufgebaut wurde. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Gedankenrichtungen.“



    Der Bauernaufstand von 1907 veranschaulicht und bestätigt die Diagnose, die die rumänischen Sozialisten um 1900 Rumänien folgenlos bescheinigt hatten. Die Lösung kam allerdings vom Staat, durch die später eingeleitete Bodenreform.



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