Tag: Soziologie

  • Fachtagung der Akademie: 140 Jahre seit der Geburt des Soziologen Dimitrie Gusti

    Fachtagung der Akademie: 140 Jahre seit der Geburt des Soziologen Dimitrie Gusti

    Als Gründer der Schule für Soziologie in Bukarest hat Dimitrie Gusti mehrere Persönlichkeiten seiner Zeit um sich versammelt, darunter Mircea Vulcănescu, der die theoretischen Grundlagen des soziologischen Systems entwickelte, Henri Stahl sowie Anton Golopenţia, Constantin Brăiloiu, Mihai Pop und Pompiliu Caraion. Dimitrie Gusti war seinerseits eine komplexe wissenschaftliche und kulturelle Persönlichkeit, Schöpfer eines originellen soziologischen Systems, international anerkannt, aber auch ein ausgezeichneter Manager und Direktor von Kultureinrichtungen.



    Dimitrie Gusti war ebenfalls der Mentor vieler Wissenschaftler Rumäniens, da seine Schüler zu führenden Persönlichkeiten der rumänischen Kultur wurden, wie z.B. Mircea Vulcănescu. Diese Beziehung zwischen dem Schüler und seinem Meister, zwischen Gusti und Vulcănescu, ist Gegenstand des Bandes: Eine Mikro-Geschichte der Zwischenkriegszeit in Rumänien“ von Zoltán Rostás und Ionuţ Butoi. Das Buch hebt die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit des Schöpfers der rumänischen Soziologie hervor. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass Dimitrie Gusti in Deutschland Philosophie studiert hat. Anschlie‎ßend studierte er Jura. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien im Jahr 1910 begann er an der Fakultät für Literatur und Philosophie der Universität Alexandru Ioan Cuza“ in Iaşi zu arbeiten. 1919 wurde er Mitglied der Rumänischen Akademie. Später, zwischen 1932 und 1933, war er Professor an den Universitäten in Iaşi und in Bukarest. Er war eine Persönlichkeit, die nie den Kontakt mit der Realität seiner Zeit verlor, sagt Nicu Gavriluţă, Professor an der Universität für Philosophie und Sozialpolitik der Universität Alexandru Ioan Cuza“ in Iaşi:



    Dimitrie Gusti hat sich mit den klassischen Themen seiner Zeit befasst. Als Schüler des deutschen Philosophen, Psychologen und Physiologen Wilhelm Wundt konnte er nicht unempfindlich gegenüber der berühmten Polemik zwischen Natur und Geist bleiben, also Naturwissenschaften gegen Geisteswissenschaften. Für Dimitrie Gusti war die Gesellschaft die Realität sui generis, die in der Lage war, diesen Konflikt zu lösen. Er hielt es für notwendig, die Gesellschaft auf komplexe und subtile Weise zu analysieren. Er schlug mehrere Forschungsebenen vor: die psychologische, die historische, die kosmologische und die biologische. Er hielt es für unentbehrlich, die Realität vor Ort so zu sehen, wie sie ist. Daher hat er das Leben der Menschen in den rumänischen Dörfern erkundet.“




    Dimitrie Gusti ist auch für seine Interviews bekannt, die er in ländlichen Gebieten führte und mit denen er neue Aspekte des Lebens der Menschen jener Zeit suchte. Nicu Gavriluţă:



    Dies ist die Realität, die auf positive und genaue Weise untersucht wird, ein unentbehrlicher Schritt in jeder soziologischen Forschung, dessen Bedeutung heutzutage unbestreitbar bleibt. Wenn wir andererseits tiefere Aspekte der Gesellschaft verstehen wollen, müssen wir uns der unsichtbaren Dimension der sozialen Wirklichkeit zuwenden, den Vermächtnissen, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden und die das Denken und Verhalten der Menschen wesentlich prägen. Dimitrie Gusti, der ebenfalls ein Schüler des französischen Philosophen und Soziologen Émile Durkheim war, fasste den sozialen Akt als eine Reihe symbolischer menschlicher Gesten auf. Wenn wir glauben, dass die soziale Realität eine Reihe von menschlichen Gesten ist, die eine bestimmte Bedeutung haben, dann müssen wir ihre Bedeutung enthüllen.“




    Der Soziologe und Forscher bei der Gusti-Kooperative“ Zoltán Rostás koordiniert ein Team, das sich für ein genaues Bild von Gustis komplexer Persönlichkeit einsetzt:



    Der Fall Gusti ist noch offen und erfordert eine andere Herangehensweise. Wir glauben, dass die Erforschung und Wiederentdeckung des Vermächtnisses von Professor Gusti die wahre Würdigung seiner Persönlichkeit ist. Und das ist leichter gesagt als getan, denn obwohl wir Zugang zu Informationen und zu seinen Werken als Teil der modernen Geschichte Rumäniens haben, laufen wir Gefahr, eine subjektive, oberflächliche und unvollständige Sicht auf seine Persönlichkeit zu bekommen. Wir können Gusti nur entdecken, wenn wir die Welt entdecken, in der er gelebt hat. Deshalb müssen wir die Wurzeln dieses Phänomens und seiner Biographie finden, um die konkreten Zusammenhänge zu finden, die es uns erlauben, die Akteure besser zu verstehen, die bewusst oder spontan zur Entstehung und Entwicklung von Gustis Soziologie beigetragen haben.“


  • Wahrnehmung des Kommunismus 30 Jahre danach: gemischte Bewertung

    Wahrnehmung des Kommunismus 30 Jahre danach: gemischte Bewertung

    Laut einer Meinungsumfrage glauben nach 30 Jahren seit dem Sturz der kommunistischen Regime in Osteuropa immer noch 27% der Rumänen, dass das kommunistische Regime gut für Rumänien war, weitere 30% sind hingegen der Auffassung, dass der Kommunismus schlecht war. Gleichzeitig antworten 34,4% der Befragten mit der Äu‎ßerung Die Dinge sind komplizierter; Der Kommunismus in den 1950er Jahren war eine Sache, der während des Ceauşescu-Regimes war anders.“



    Eine weitere soziologische Umfrage, die im November gestartet wurde, zeigt, dass die Hälfte der Rumänen glaubt, dass es im Kommunismus besser gewesen sei. Diese Art von Umfragen wird seit 1989 durchgeführt, und die Ergebnisse waren stets etwas anders. Zum Beispiel glaubte 20 Jahre nach der Dezemberrevolution von 1989 etwa die Hälfte der Rumänen, dass es vorher besser war, und 14% von ihnen glaubten, dass sich die Dinge nicht zum Guten geändert hätten. Unabhängig von den Unterschieden zwischen den Methoden und Ergebnissen ist es ganz klar, dass es viele positive Wahrnehmungen gibt, vielleicht genauso viele wie die negativen. Die Forscherin Manuela Marin von der West-Universität in Timişoara (Temeswar) hat in mehreren Studien das Phänomen analysiert, das als kommunistische Nostalgie“ bezeichnet wurde. Sie ist der Meinung, dass man zur Erklärung dieses Phänomens diejenigen Aspekte analysieren sollte, die die Menschen in Bezug auf die jüngste Vergangenheit als positiv wahrnehmen. Manuela Marin:



    Nach dem, was mir aufgefallen ist, geht es hier vor allem um das Wohlbefinden, das den Menschen durch die staatliche Bevormundung zuteil wird: ein stabiler Arbeitsplatz und Lebensbedingungen, die als anständig angesehen wurden, bis hin zu einer gewissen Gleichheit in der Gesellschaft. Was die Rumänen am Kommunismus meiner Meinung nach schätzten, war der bevormundende Staat, der sich in das Leben der Bürger einmischte. Auch im Hinblick auf frühere Umfragen sollte erwähnt werden, dass die Rumänen nicht wieder in das politische Regime mit all seinen Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit zurückkehren wollen. Was sie wollen, ist eine Mischung zwischen dem sozialistischen Wohlergehen und der Freiheit, die sie jetzt genie‎ßen.“




    In Wirklichkeit war der sozialistische Wohlstand eine Illusion. Wie könnte man also diese verschönte Wahrnehmung der Vergangenheit erklären? Manuela Marin versucht es und antwortet:



    Wir müssen daran denken, dass es in den 1970er–1980er Jahren und sogar in den 1960er Jahren, weil man normalerweise zwischen den verschiedenen Stadien des Kommunismus unterscheidet, den Menschen darauf ankam, eine Wohnung in einem Wohnblock zu bekommen, Zugang zu Elektrizität und hei‎ßem Wasser zu haben und auch ein stabiles Einkommen zu erlangen. Für die in den 1940er und frühen 1950er Jahren geborene Generation war das das Maximum an Wohlstand, von dem sie träumen konnte. Die 1970er Jahre gelten als die Jahre des sozialistischen Wohlstands, aber die Menschen damals hatten nichts, womit sie diesen Wohlstand vergleichen konnten. Sie erinnern sich nur an den festen Arbeitsplatz, an den Urlaub am Meer oder in den Bergkurorten und dass sie sich irgendwann eine Waschmaschine oder einen Fernseher leisten konnten. Wir müssen diejenigen verstehen, die vom Land kamen und sich in einer Stadt oder einem besser entwickelten Ort niederlie‎ßen, das war ein Schritt nach vorn in Bezug auf den materiellen Wohlstand.“




    All diese Vorteile und Fortschritte wurden vom Staat bereitgestellt, so dass die positive Wahrnehmung des Kommunismus auch eine Frage der Nostalgie für diese Art von fürsorglichem Staat ist. Im Kommunismus wurde alles vom Staat geregelt: Arbeit, Wohnung, Urlaub und sogar Freizeit. Der schnelle und traumatische Niedergang der Wirtschaft, der durch den angekündigten Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus ausgelöst wurde, verwirrte viele und lie‎ß sie von einer Art involviertem Staat träumen, was aber seinen Preis haben sollte, wie Manuela Marin erläutert:



    Der Einzelne sah sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert, die alles in Frage stellten, was ihm bis dahin vertraut war: die eigene Existenz und das Leben im Allgemeinen. Es geht um das, was ich das Verschwinden des Gesellschaftsvertrages nenne. Der kommunistische Staat ist ein paternalistischer Staat, der einen gewissen ungeschriebenen Sozialvertrag mit den einfachen Bürgern abgeschlossen hat: Ich sorge für eure Grundbedürfnisse, und ihr verpflichtet euch, euch zu unterwerfen und die Entscheidungen der kommunistischen Partei oder des Staates umzusetzen.“




    30 Jahre nach dem Untergang dieses bevormundenden Staates haben es die nachfolgenden Regierungs- und Verwaltungsstrukturen nicht geschafft, die Abhängigkeit vom Staat durch das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit einiger Institutionen zu ersetzen, die bestimmte Rechte garantieren. Wir haben mehr dazu von der Historikerin Alina Pavelescu, der stellvertretenden Direktorin des Nationalarchivs in Bukarest, erfahren:



    Gegenwärtig bedeutet es für einen Bürger, sich gut aufgehoben und sicher zu fühlen, auch den anderen Mitgliedern der Gesellschaft, den Behörden und Institutionen zu vertrauen. Und dieser Mangel an Vertrauen ist verständlich, solange die Beziehungen zwischen Bürgern und Institutionen in unserem Land nicht so gut sind, mit so vielen ungelösten Fragen in den letzten 30 Jahren, die sowohl mit dem kommunistischen Regime als auch mit der postkommunistischen Zeit zusammenhängen, als viele ehemalige Bonzen des kommunistischen Regimes die öffentliche Agenda besetzten und nur ihre persönlichen Interessen verfolgten. Die Folge ist das mangelnde Vertrauen der Bürger in andere Menschen und auch in die Institutionen.“




    Andererseits sind viele der im Kommunismus entstandenen Probleme nur mühsam und teilweise gelöst worden. Ganz im Gegenteil, viele negative Aspekte haben sich hartnäckig gehalten und haben mancherorts sogar zugenommen. Und das habe bei den jungen Leuten, die glauben, dass es sich um Phänomene aus der jüngsten Vergangenheit handelt, Verwirrung gestiftet, meint Alina Pavelescu:



    Es ist ziemlich merkwürdig, dass viele junge Leute oder Menschen mittleren Alters sagen, dass es früher besser gewesen sei, wenn man bedenkt, dass diejenigen, die damals lebten, wissen sollten, dass zum Beispiel die Behandlungsbedingungen in den Krankenhäusern schrecklich waren, so viel schlimmer als heute. Das Bestechungssystem zum Beispiel stand bereits in den 1980er Jahren fest im Sattel und hatte sich in allen Krankenhäusern verbreitet.“




    Aber damit die jüngeren Generationen über all diese Dinge erfahren, sollte die Geschichte des Kommunismus besser vermittelt und verstanden werden. Bildung und geringere Erwartungen an einen paternalistischen Staat könnten Lösungen für die jüngeren Generationen sein, um die aus dieser Zeit geerbten Mentalitäten loszuwerden. Alina Pavelescu glaubt, dass Kinder heute die Chance haben, in einer offenen Gesellschaft und einer Welt zu leben, in der ihr kritisches Denken frei wachsen kann.

  • Jugendliche in Rumänien: armutsgefährdet und politisch unterrepräsentiert

    Jugendliche in Rumänien: armutsgefährdet und politisch unterrepräsentiert

    Die 2018 durchgeführte Umfrage zeigt die Einstellung, Perspektive und das Selbstbild der Rumänen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren zu Themen wie Familie, Bildung, Lebensstil, Religion und Demokratie. Sie wurden mit jungen Menschen aus anderen europäischen Ländern, EU- und Nicht-EU-Mitgliedern, verglichen.



    Alle wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren, die sich auf junge Menschen in Rumänien beziehen, sehen sehr schlecht aus, sagt Gabriel Bădescu, einer der Autoren der Umfrage, die zusammen mit Daniel Sandu, Daniela Angi und Carmen Greab erstellt wurde. Einige dieser Indikatoren müssen jedoch in einem breiteren europäischen Kontext angewendet werden. So stimmen beispielsweise mehr als die Hälfte der rumänischen Befragten zu, dass Demokratie eine gute Regierungsform ist, aber 23% glauben immerhin, dass Diktatur unter bestimmten Umständen eine bessere Regierungsform als Demokratie sein könnte. Im Vergleich zu den anderen neun in die Erhebung einbezogenen Ländern Südosteuropas genie‎ßt die Demokratie in Rumänien die geringste Unterstützung, ungeachtet der in allen europäischen Ländern sichtbaren autoritären Tendenzen.



    Bemerkenswert ist, dass der Generationswechsel allein schon bessere, demokratieliebendere Bürger mit sich bringt, sagt Gabriel Bădescu:



    Dieser Rückgang der Bindung der Menschen an die Demokratie ist nicht gleichmä‎ßig über alle Altersgruppen verteilt. Tatsächlich hängt es sehr stark vom Alter des Befragten ab. Wenn wir von der Qualität der Demokratie sprechen, sollten wir wissen, dass junge Menschen eine gefährdete und problematische Kategorie sind. Problematisch, denn Studien zufolge ist es äu‎ßerst schwierig, bestimmte Einstellungen, sobald sie in jungen Jahren geprägt sind, später zu ändern; sie bleiben verwurzelt und verselbstständigen sich.“




    Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchte neben den Mentalitäten auch das Ausma‎ß der Unterstützung von Minderheiten in Rumänien und den anderen neun Ländern. Gabriel Bădescu erzählt uns, was die Ergebnisse sind:



    Die Unterstützung für Minderheitenrechte ist bei jungen Menschen gering. Rumänien hat bei mehreren Kategorien von Minderheiten aus allen zehn Ländern die niedrigste Unterstützung. Sie hat auch die zweitniedrigste Unterstützung für die ethnischen Minderheiten und die drittniedrigste, wenn es um die Rechte der Armen geht.“




    Die Studie hat auch ein Gefälle zwischen den Regionen Rumäniens sowie zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten festgestellt. Das Gefälle zwischen jungen Menschen in den städtischen Gebieten und denen in den ländlichen Gebieten widerspiegelt eine Benachteiligung der letzteren. Nach anderen Umfragen lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2017 im ländlichen Raum bei 37,3% und damit sechsmal höher als in städtischen Gebieten. Die 2018 durchgeführte Umfrage unter Jugendlichen zeigt, dass 23% der Jugendlichen in ländlichen Regionen unter der Kategorie NEET fallen, die für Not in Education, Employment or Training“ (dt. nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung“) steht, was bedeutet, dass sie keine formale Ausbildung absolvieren und auch nicht beschäftigt sind. Diese Zahl ist in den ländlichen Gebieten doppelt so hoch wie in den städtischen Gebieten, ein Unterschied, der in anderen EU-Ländern nicht zu finden ist.



    Die wirtschaftliche Situation wird von den Autoren der Umfrage zum Anlass genommen, um den relativ hohen Anteil junger Menschen zu erklären, die auswandern wollen. Im Gegensatz zu 2014, als eine ähnliche Umfrage durchgeführt wurde und 60% der 14- bis 29-Jährigen emigrieren wollten, sank diese Zahl 2018 auf fast 30%. Der Soziologe Daniel Sandu weist darauf hin, dass diese Zahl den Wünschen und nicht unbedingt konkreten Plänen entspricht, das Land zu verlassen:



    Es ist nicht entscheidend, wie intensiv dieser Wunsch ist, um festzustellen, ob sie das Land tatsächlich verlassen werden. Der Wunsch, zu gehen, kann vielmehr als Antwort auf die Frage interpretiert werden: Wie beurteilen Sie Ihre Chancen auf Selbstentfaltung in Ihrem eigenen Land? Wenn die wirtschaftliche Situation in Ihrem eigenen Land schwierig ist, wie im Jahr 2014, und wenn es weniger Möglichkeiten gibt, dann besteht die Tendenz, Ihre Abreise zu planen oder das Land verlassen zu wollen.“




    Zur Frage, wer das Land am stärksten verlassen will, zeigt die Umfrage einige überraschende Antworten, sagt der Soziologe Daniel Sandu:



    Wenn wir genauer hinsehen, bemerken wir eine bimodale Verteilung der Migrationsabsichten. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Gruppen, an den gegenüberliegenden Enden. Eine Gruppe besteht aus jungen Menschen aus begünstigten Familien, die ein Auslandsstudium planen. Die Gruppe besteht aus jungen Menschen aus Familien, die Zugang zu materiellen Gütern haben, aber nicht aufgrund des Wohlstands ihrer Familien, sondern weil verschiedene Familienmitglieder bereits im Ausland sind. Sie schicken Geld zurück ins Land und geben diesen jungen Menschen Zugang zu Gütern, aber sie geben ihnen keine Stabilität und keine wirklichen Zukunftsaussichten in diesem Land.“




    Die Wahrnehmung der Zukunft basiert in der Tat darauf, wie die Gegenwart wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang bestätigt die Umfrage andere Statistiken. Die Vertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rumänien, Victoria Stoiciu, erklärt:



    Wie aus unserer Umfrage und anderen Studien hervorgeht, sind junge Menschen eindeutig eine unterprivilegierte Kategorie, in erster Linie wirtschaftlich. Wenn wir uns die Armutsquote unter jungen Menschen ansehen, und da meine ich die Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren, werden wir sehen, dass sie sehr hoch ist, höher als in anderen Altersgruppen. Wir beziehen uns in der Regel auf ältere Menschen oder Rentner, wenn wir solche Vergleiche anstellen. Das bedeutet nicht, dass ältere Menschen keine Probleme haben, sondern dass die wirtschaftliche Situation junger Menschen viel schlechter ist. Au‎ßerdem sind junge Menschen politisch unterrepräsentiert.“

  • Bildungswesen: Alice im Lehrbuchland

    Bildungswesen: Alice im Lehrbuchland

    Eine Gruppe von Forschern an der Bukarester Fakultät für Soziologie hat vor gut einem Jahr die eigene Erkundungsreise gestartet. Sie wollten mehr über aktuell verwendete Lehrbücher erfahren. Genauer gesagt ging es bei der Forschungsarbeit zwischen Oktober 2014 und Mai 2015 um die Schulbücher für die Klassen 1-4, in den Fächern Kommunikation in rumänischer Sprache und Ethik. Was sie dabei entdeckten waren allerdings keine Wunder“, wie im Roman von Lewis Carrol, sondern Dinge, die für das 21. Jahrhundert unverständlich scheinen: viele Stereotype, Geschlecht und Alter betreffend. Cosima Rughiniş ist Dozentin an der Hochschule, sie berichtet über die erschreckenden Schlussfolgerungen ihrer Studie.



    Die Lehrbücher enthalten sehr viele Stereotype in diese beiden Richtungen. Die erwachsenen Mütter sind vor allem als Lehrerinnen beschäftigt. In den Fiebeln sind zwei Drittel der Frauen als Lehrerinnen abgebildet. Und gewiss sieht es in der Realgesellschaft nicht so aus. Die Stereotype sind vor allem mit der Art der Beschäftigung verbunden. Erwachsene Frauen sind ferner oftmals beim Kochen abgebildet, so nach dem Motto <Frauen an den Herd>. Und das ist ist im wahrsten Sinne des Wortes gemeint: Sie halten auf den Bildern einen Topf in der Hand, oder man erfährt, dass sie gerade Plätzchen, Torten und Kekse gebacken haben. Dafür erfährt man überhaupt keine realitätsbezogenen Informationen. Die Lehrbücher spiegeln nicht die Welt wider, in der wir heute leben und das aus mehreren Gesichtspunkten. Und das trifft auch auf die männlichen Figuren zu. Die Lehrbücher ignorieren das Familienleben der Männer oder ihre Beteiligung am Familienleben. Dafür werden sie fast ausschließlich als Piloten, Holzfäller oder Schreiner dargestellt.“



    Die Zeichnungen sind also nicht zeitgemäß – das auch weil die Texte, die sie begleiten, ebenso nicht mehr mit der aktuellen rumänischen Gesellschaft im Einklang sind. Die Schulkinder lesen Ausschnitte aus literarischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts. Sogar Texte, die von den Autorinnen der Lehrbücher selbst verfasst wurden, präsentieren ein klischeehaftes Universum mit Frauen als Mütter und Lehrerinnen, manchmal immerhin als Kinderärztinnen. In Wirklichkeit haben die Frauen im heutigen Rumänien die unterschiedlichsten Berufe, nur die wenigsten sind Hausfrauen. Darüber hinaus sind die Väter an der Erziehung der Kinder und an den Arbeiten im Haushalt durchaus beteiligt. Warum gibt es dann trotzdem die Stereotype in den Lehrbüchern, fragten wir Cosima Rughiniş.



    In der kollektiven Wahrnehmung und in dem öffentlichen Diskurs zur Weiblichkeit und Männlichkeit findet man sie wieder. In der Tat glaube ich nicht, dass es im heutigen Rumänien noch die Erwartungshaltung gibt, dass ein Mädchen oder eine Frau nicht arbeiten sollte. Aus diesem Grund gibt es eine Diskrepanz zwischen den Büchern und der Wirklichkeit. Und diese Diskrepanz entstammt nicht allein den literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, die in den Lehrbüchern präsentiert werden, sondern auch einer Trägheit der Darstellung. Die Bücher sind ja ohne Zweifel unter bestimmten zeitlichen oder finanziellen Einschränkungen entstanden. Und da hat sich meiner Meinung nach niemand die Mühe gemacht, dass die Lehrbücher mit dem heutigen Alltag der Kinder im Einklang stehen.



    Neben Stereotypen des Geschlechts enthalten die Lehrbücher für Grundschüler auch Stereotype des Alters. Diese würden von Soziologen als noch gefährlicher eingestuft, sagt Cosima Rughiniş.



    In Rumänien sind Stereotype des Alters viel stärker und man redet viel weniger darüber, sie sind quasi unsichtbar und lösen nicht dieselben Emotionen aus wie die Stereotype des Geschlechts. Wir als Frauen und einige der Männer mit denen wir zusammenarbeiten bekommen einen regelrechten Erzürnungsschub wenn wir die absolut lächerlichen Stereotypen erkennen. Aber ein Greis mit einem Spazierstock und ein Großmütterchen mit Kopftuch können niedlich erscheinen. Und das vor allem unter den gegebenen Voraussetzungen, da Rumänien wie die meisten europäischen Länder eine demographische Krise erlebt. Vor diesem Hintergrund werden ältere Personen faktisch ausgegrenzt aus sozialen Tätigkeiten, zudem auch aus der kollektiven Wahrnehmung verdrängt. Und leider tragen die Lehrbücher zu dieser Krise der alten Bevölkerung bei. Die Älteren werden nicht als aktive Personen abgebildet. In allen Lehrbüchern, die wir einstudiert haben – und wir haben alle Fiebeln, alle Ethik- und fast alle Rumänisch-Lehrbücher der 4. Klassen durchforstet – also in allen gab es eine einzige Ausnahme. Dort waren Großeltern in einer aktiven Szene dargestellt, beim Wandern in den Bergen. Ansonsten sitzen die Omas und Opas im Sessel, auf einer Bank, tragen Brillen und hören schlecht…



    Troz der Stereotype, mit denen Kinder bereits in den frühen Schuljahren konfrontiert werden, würde die Berufswahl dadurch nicht in irgendeiner Form beeinflusst werden, glauben Soziologen. Allerdings sind die Auswirkungen der Darstellungen heimtückischer als man denkt, erklärt Cosima Rughiniş.



    Die Gefahr besteht nicht darin, dass junge Mädchen Hausfrauen zu ihren Vorbildern machen. Nicht die Vorbilder sind das Problem. Mädchen und Jungs lassen sich aus der Gesellschaft inspirieren, aus Filmen, aus den Menschen aus ihrem Umfeld…Die Gefahr geht von der Glaubwürdigkeit aus, die unterschiedliche Personen, Frauen oder Männer, ausstrahlen. Zum Beispiel die Geschäftsfrauen. Wenn wir Geschäftsfrauen treffen, haben wir manchmal das Gefühl, dass sie weniger glaubwürdig sind als Geschäftsmänner. In manchen Ethik-Lehrbüchern gibt es ganze Kapitel über führende Persönlichkeiten und über Berufe, die nur von Männern ausgeübt werden. Es sind Ausnahmen, ich kann sie nicht als repräsentativ bezeichnen, aber ihre Präsenz in den Lehrbüchern zeugt von einer bestimmten kollektiven Wahrnehmungsform. Und deshalb glaube ich, dass Frauen mit einem gewissen Glaubwürdigkeitsnachteil Berufe wie Politikerin, Managerin oder Geschäftsfrau ausüben werden.



    Die Soziologen von der Universität Bukarest haben ihre Forschungsarbeit Alice im Lehrbuchland getauft. Sie wollen die Studie fortsetzen und die Lehrbücher für die Sekundärstufe unter die Lupe nehmen.

  • Das Rumenglische und seine Sprecher

    Das Rumenglische und seine Sprecher

    So wie im Französischen seit langem der Begriff Franglais benutzt wird, um eine Form der französischen Sprache zu bezeichnen, die viele Anglizismen enthält, entwickelte sich durch einen ähnlichen Prozess das Rumenglische. Sprachwissenschaftler haben gemerkt, dass nach 1990 der Einfluss der englischen Sprache durch Musik und Filme immer grö‎ßer wurde. Es handelt sich um das amerikanische Englisch, das in der Kultur der Jugendlichen und in der Fachsprache mancher Bereiche zu finden ist. Die Sprachwissenschaftlerin Rodica Zafiu, Universitätsprofessorin an der Sprachwissenschaften-Fakultät in Bukaret erklärt:



    Wenn wir über die Sprache der Jugendlichen sprechen, sto‎ßen wir oft auf Slang, auf kolloquiale Begriffe. Manche sind schon seit längerer Zeit Teil der Sprache geworden, wie ‚funny‘, ‚groggy‘ oder ‚OK‘. Das sind keine Neuigkeiten. Andere Begriffe, viele — wie ‚loser‘ — sind neuer. Au‎ßer im Slang — der ausdrucksvoll und oft abwertend ist — oder bei Wörtern, die verbinden, wie der Ausdruck ‚by the way‘, der das veraltete französische ‚a propos‘ ersetzt, ist es verblüffend, was mit der Computer- und Internetsprache passiert. Auch wenn diese Sprache nicht unbedingt die Jugendlichen charakterisiert, beschäftigen sich diese am meisten mit solchen Tätigkeiten. Da erscheinen Ausdrücke, die nicht mehr nur dem Rumenglischen angehören, sondern einen Code darstellen, der der älteren Generation unzugänglich ist. So zum Beispiel LOL und andere Abkürzungen, die direkt aus dem Englischen übernommen wurden. Andere Male sind es rumänische Abkürzungen, die aufgrund dieses Moldells erschienen.“



    Die Geschwindigkeit der Internet-Kommunikation hat auch die Anpassungsfähigkeit des Rumänischen an das IT-Englische eingeschränkt. Die Jugendlichen downloaden, liken, clicken… Es ist ein Phänomen, das auf die Mode und die Bequemlichkeit zurückzuführen ist. Die Soziologin Claudia Ghişoiu erläutert:



    Etwa 85% der Information im Internet ist, als Folge der Globalisierung, auf englisch. Deshalb haben etwa 1,5 Milliarden Menschen auf der Welt unterschiedliche Englisch-Kenntnisse. Um im Internet aktiv zu sein, muss man Englisch sprechen können. Es ist eine sehr synthetisierende Sprache, das bedeutet, sie kann viele Informationen mittels einfacher und weniger Worte zusammen bringen. Deshalb ist Englisch in der Geschäftswelt und im IT-Bereich so verbreitet. Auch im Bildungswesen bekommen die Studenten Literaturlisten auf englisch, sie lesen viel auf englisch und erforschen im Internet englischsprachige Medien. Dann benutzen sie englische Wörter, deren Übersetzung ins Rumänische mehrere Worte oder einen ganzen Ausdruck benötigen würde.“



    Aber nicht nur die Mode und das übermä‎ßige Benutzen des Computers begründen die Entwicklung des Rumenglischen. Diese Sprache drücke auch eine Einstellung gegenüber der eigenen Kultur aus, meint Claudia Ghişoiu.



    Es ist etwas mehr als eine nur gelegentlich benutze Sprache. In der soziologischen Fachsprache benutzt man den Begriff Xenozentrismus. Das bedeutet, eine eine positive Beurteilung und den Wunsch, alles, was fremd ist, anzunehmen. Das wird bei den Jugendlichen in Rumänien immer mehr ersichtlich. Das rumänische Volksfest ‚Dragobete‘ ist zum Beispiel dem Valentines Day unterlegen. Dieses wurde aus wirtschaftlichen Gründen importiert. Die Kultur wird in Form der Feste, Filme und der Musik exportiert. Diese Importe kommen zum Gro‎ßteil aus den USA, sind also auf englisch und werden als gut empfunden.“



    Auch wenn es keine Studien für die Messung des Xenozentrismus gibt, scheint eine der Eigenschaften derjenigen, die das Rumenglische benutzen, die Vorliebe für das Fremde zu sein. Grund dafür ist auch, dass die rumänische Kultur nicht mehr gefördert wird. Nichtsdestotrotz sollte uns das Rumenglische nicht beunruhigen, meint die Sprachwissenschaftlerin und Universitätsdozentin Rodica Zafiu.



    Es ist wenig wahrscheinlich, dass diese Begriffe die Struktur der Standard-Sprache oder die Sprache eines philosophischen Essays beeinflussen werden. Dieses Gemisch wird vorübergehend in der Umgangssprache bleiben. Diese erneuert sich sehr schnell, schockiert am Anfang, übernimmt Worte von überall, aus der Roma-Sprache, aus dem Englischen, so, wie in der Vergangenheit Worte aus dem Türkischen, dem Griechischen und dem Französischen übernommen wurden. Ansonsten stehen Wörter wie Chat, Facebook, Link, Hacker für aktuelle Begriffe, die sich anpassen werden oder verschwinden können. Alle diese Begriffe sind vorübergehend. Vor 20 Jahren hat es sie nicht gegeben, manche entstanden als Metapher in der englischen Sprache oder durch unterschiedliche semantische Ableitungen. Es könnte sein, dass diese mit dem technologischen Fortschritt verschwinden werden, bevor sie tief in die rumänische Sprache eindringen.“



    Die Soziologin Claudia Ghişoiu, ebenfalls Universitätsdozentin, hat aber eine etwas andere Meinung:



    Menschen älter als 25 können keinen wissenschaftlichen oder akademischen Text schreiben, ohne englische Begriffe zu benutzen. Dasselbe gilt für ihre Reden. Es ist verblüffend. Wenn man nachfragt, was sie da schreiben wollten, haben sie Schwierigkeiten, die Botschaft auf rumänisch zu übermitteln. Sie beschreiben ein Wort in einem ganzen Absatz. Sie haben Schwierigkeiten, den rumänischen Begriff zu finden.“



    Besorgniserrengend oder nicht, ist das Rumenglische ein Beweis dafür, dass die Sprache lebendig ist. Ihre Normen sind nicht ewig und können sich mit der Zeit ändern.



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