Tag: Surrealismus

  • Europäische Kulturhauptstadt Temeswar: Brauner und Brâncuși-Ausstellungen

    Europäische Kulturhauptstadt Temeswar: Brauner und Brâncuși-Ausstellungen

    Victor Brauner war ein Maler, Bildhauer und Dichter des Surrealismus, einer der führenden Vertreter der Bewegung, ein jüdischer Künstler, der ursprünglich aus Rumänien stammte. Constantin Brâncuși gilt weltweit als der Vater der modernen Bildhauerei und der zeitgenössischen Kunstsprache.


    Victor Brauner: Erfindungen und Magie“ ist vom 17. Februar bis 28. Mai in der Kulturhauptstadt Temeswar geöffnet. Constantin Brâncuși: Rumänische Quellen und universelle Perspektiven“ lädt die Besucher zwischen dem 30. September 2023 bis zum 28. Januar 2024 in den Westen Rumäniens ein. Wir sprachen mit Ovidiu Șandor, dem Präsidenten der Stiftung Art Encounters, die die Veranstaltungen mitorganisiert, über die beiden außergewöhnlichen Ausstellungen und die Art Encounters Biennale in Temeswar (19. Mai – 16. Juli 2023).



    Natürlich haben wir heute Abend hier den Beitrag der Stiftung Art Encounters in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Kunstmuseum und dem Französischen Institut zum Kulturhauptstadtprogramm vorgestellt. Das gesamte Programm ist sehr ehrgeizig, mit herausragenden Veranstaltungen in allen Bereichen. Was die Beteiligung unserer Stiftung anbelangt, so handelt es sich zunächst um eine Victor-Brauner-Ausstellung, eine erste wirkliche Retrospektive von Victor Brauner in seinem Heimatland, einem Künstler, der in diesem Land leider viel zu wenig bekannt ist, und wir hoffen, dass wir dazu beitragen können, diese Situation zu ändern, mit zahlreichen Leihgaben aus dem Centre Pompidou in Paris und mit Werken aus verschiedenen Museen des Landes.


    Eine Ausstellung, von der ich glaube, dass sie dem Publikum die Möglichkeit geben wird, diesen international bedeutenden surrealistischen Künstler zu entdecken oder wiederzuentdecken. Ein jüdischer Künstler, der in Rumänien geboren wurde und dessen Leben meiner Meinung nach eine wichtige Geschichte im Zusammenhang mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs darstellt, die leider auch heute noch wichtig ist, wenn man bedenkt, was um uns herum geschieht. Als nächstes steht die Biennale Art Encounters auf dem Programm, die bereits zum fünften Mal stattfindet, und zwar in diesem besonderen Jahr 2023, eine Veranstaltung, die sich unter der Leitung des Schweizer Kurators Adrian Notz mit der Beziehung zwischen Kunst und Technologie befassen wird. Während die beiden anderen Ausstellungen Persönlichkeiten des kulturellen Erbes vorstellen, ist die Biennale eine Veranstaltung, die den Beitrag der jungen Generation aus Rumänien und Osteuropa, aber auch bedeutender internationaler Künstler zeigt, um darzustellen, was heute in der Welt geschieht, wie wir mit Kunst, Technologie und allem um uns herum umgehen.


    Am 30. September ist die Eröffnung der Brâncuși-Ausstellung geplant, der ersten Brâncuși-Retrospektive der letzten 50 Jahre in Rumänien und Mittel- und Osteuropa. In gewisser Weise bringen wir symbolisch Brâncușis reife Werke aus Museen wie dem Centre Pompidou, der Tate Modern London und der Guggenheim Foundation Venedig nach Hause, zusammen mit Werken, vor allem aus seiner Jugend, die sich in Museen des Landes, dem Nationalen Kunstmuseum Bukarest und dem Nationalen Kunstmuseum Craiova befinden. Diese Ausstellung wird erneut gemeinsam mit dem Nationalen Kunstmuseum Timisoara und dem Institut Français organisiert.



    Was wird die Ausstellung Victor Brauner: Erfindungen und Magie“ dem Publikum bringen? – fragten wir Ovidiu Șandor.



    Im Fall von Brauner wird es viele Werke geben, viele Gemälde, die vielleicht seine bekannteste Kunstform darstellen, zusammen mit wichtigen Zeichnungen aus seinem Werk. Wir sprechen hier über Werke, die sowohl Brauners Beitrag oder Arbeit während der Zeit umfassen, als er in Rumänien lebte und arbeitete, insbesondere in Bukarest, in den 20er und 30er Jahren, als er eine der Säulen der Avantgarde in Bukarest war, als auch Werke aus der Zeit, als er in Frankreich lebte, den 40er Jahren bis zu seinem Tod in den 60er Jahren. Es wird also eine Ausstellung sein, die seine gesamte Karriere umfasst. Auch einige seiner Skulpturen werden zu sehen sein. Es wird ein gefilmtes Interview mit Victor Brauner zu sehen sein. Es werden einige seiner berühmten Werke zu sehen sein, darunter das Bild, auf dem er sich selbst mit einem verletzten Auge malt, was einige Jahre später tatsächlich passiert, als ihm ein Freund bei einer Kneipenschlägerei das Auge aussticht. Diese Form der Vorahnung entspricht also ganz dem surrealistischen Denken, das davon ausgeht, dass es eine irgendwie verborgene Beziehung zwischen der Realität und dem Unwirklichen, zwischen Leben und Traum, zwischen bestimmten Dingen und Magie usw. gibt.



    Ovidiu Șandor enthüllte auch die Überraschungen der großen Retrospektive Constantin Brâncuși – Rumänische Quellen und universelle Perspektiven“:



    Im Fall von Brâncuși handelt es sich um eine bedeutende Anzahl von Skulpturen, sowohl aus seiner frühen als auch aus seiner reifen Schaffensperiode. Die von Doina Lemny kuratierte Brâncuși-Ausstellung versucht, diesen Wandel von Brâncuși aufzuzeigen, der darin besteht, dass der junge Künstler Rumänien verlässt, wo er in Tradition und Kultur verwurzelt ist, und in Paris ein beeindruckendes internationales kulturelles Universum entdeckt. Und die Ausstellung zeigt die Verwandlung, die Brâncușis Werke durchlaufen, bis sie diese raffinierten Formen von universeller Bedeutung erreichen. Neben den Skulpturen werden wir eine wichtige Reihe von Fotografien von Brâncuși zeigen, ein Teil seines Werks, der in Rumänien vielleicht zu wenig bekannt ist und geschätzt wird. Tatsächlich entdeckt Brâncuși irgendwann die Kamera und verbringt viel Zeit damit, seine Werke im Atelier sorgfältig aufzustellen, auf das richtige Licht zu warten, sie in verschiedenen Positionen, in verschiedenen Kombinationen von Sockeln und Werken zu fotografieren, und wenn man so will, ist es eine Art Lektion, in der Brâncuși uns lehrt, wie man seine Skulptur betrachtet. Natürlich werden daneben auch Zeichnungen von Brâncuși zu sehen sein, die Korrespondenz von Brâncuși mit bestimmten Freunden im Land sowie Filme, die sowohl von Brâncuși als auch von anderen wichtigen Künstlern der Zeit gedreht wurden und Brâncuși bei der Arbeit zeigen.

  • Lyrik-Festival „Gellu Naum“: wegen Finanzknappheit nur einen Tag anberaumt

    Lyrik-Festival „Gellu Naum“: wegen Finanzknappheit nur einen Tag anberaumt

    Das Nationale Literaturmuseum in Bukarest hat am 1. August zusammen mit der Stiftung Gellu Naum“ zum 104. Jahrestag der Geburt des Dichters das vierte gleichnamige Festival organisiert. Zwischen 1933 und 1937 studierte Gellu Naum an der Universität Bukarest Philosophie. 1938 ging er auf Anraten seines Freundes, des surrealistischen Malers Victor Brauner, nach Paris, wo er das Philosophiestudium an der Sorbonne weiterführte. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich mit Pierre Abélard. In Frankreich trat er, animiert von André Breton, in den Kreis der Surrealisten ein. Im Jahr 1939 kehrte er zurück nach Rumänien, wo er in die Armee eingezogen wurde. 1944 erkrankte er an den Spätfolgen des Aufenthaltes in der Armee.



    Im Jahr 1941 entstand der Kreis der Surrealisten Rumäniens, bestehend aus Gellu Naum, Gherasim Luca, Dolfi Trost, Virgil Teodorescu und Paul Păun. Ihre Aktivität war in den Jahren 1945–1947 besonders intensiv. Breton äu‎ßerte sich seinerzeit dazu: Das Zentrum der Welt ist nach Bukarest gezogen.“ Anfang des Jahres 1948 wurde die Gruppe der Surrealisten in Rumänien verboten und sie löste sich auf. Die Texte von Gellu Naum — au‎ßer einigen Kinderbüchern — durften zwanzig Jahre lang nicht erscheinen. 1968 wurde das Publikationsverbot aufgehoben und er veröffentlichte weitere Gedichtbände, so zum Beispiel Athanor“ (1968), Mein müder Vater“ (1972), Ausgewählte Gedichte“ (1974). Ab 1990 wurde er häufig nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz eingeladen, um dort aus seinen Werken vorzulesen. Seine Werke wurden in die wichtigsten Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet, u.a. 1999 mit dem Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie. Der Dichter ist am 29. September 2001 verstorben. Das Festival, das seinen Namen trägt, feiert die Lyrik des Dichters seit vier Jahren, dieses Jahr seien die Finanzmittel für die Veranstaltungen stark gekürzten worden, sagt der Intendant des Literaturmuseums, Ioan Cristescu:



    Dieses Jahr wäre unser Festival fast eingestellt worden. Wir haben aber alles Mögliche unternommen, um die Partnerschaft mit der Stiftung »Gellu Naum« und mit der Schriftstellerin Simona Popescu weiterzuführen. Wir haben uns entschieden, einen einzigen Festivaltag zu organisieren und die Ausgaben stark zu reduzieren, aber auf die Veranstaltung nicht zu verzichten. Auf dem Programm standen, wie jedes Jahr, Lesungen aus den Werken junger Dichter. Die Veranstaltung fand im Garten des Museums statt und wurde sehr gut besucht. Der Pianist Mircea Tiberian und der Flötist Ion Bogdan Ştefănescu haben den Abend musikalisch begleitet.“




    Mit dem Rundtischgespräch Gellu Naum — kritische Perspektiven“ haben die Organisatoren versucht, einen Dialog zwischen unterschiedlichen Zeiten und Räumen zu schaffen, um das Erbe der rumänischen Dichtung und die zeitgenössische Kultur wieder in die Aufmerksamkeit zu bringen. Ioan Cristescu kommt erneut zu Wort mit Einzelheiten:



    Voriges Jahr haben wir ein internationales Festival organisiert und hatten viele Künstler aus Europa zu Gast, die die Gedichte von Gellu Naum kannten. Gellu Naum bleibt ein Symbol der europäischen Avantgarde, und das Interesse für seine Lyrik bleibt europaweit bestehen. Mit jeder Ausgabe des Festivals erfährt sein Werk mehr Anerkennung. Gellu Naum ist ein bedeutender Vertreter der europäischen Avantgarde der Nachkriegszeit.“

  • Jahrhundertwende: Junge Künstlergruppe revolutioniert Kunstverständnis um 1900

    Jahrhundertwende: Junge Künstlergruppe revolutioniert Kunstverständnis um 1900

    Die in den 1860er Jahren gegründete Literatengruppe Junimea“ — die übersetzt sinngetreu Jugend“ bedeutet — war nur der Anfang. Noch radikaler und westlicher orientiert war jedoch die Gruppe Tinerimea artistică“, die gleich nach der Wende zum 20. Jahrhundert nach dem Vorbild der Wiener Sezession und der Art Nouveau im französischsprachigen Raum Europa entstand. Tinerimea artistică — die Künstlerjugend — war als Bewegung auf eine ästhetische Revolution aus und setzte konzeptuell fast 1:1 den modernistischen Trend aus dem Westen um. Für Erwin Kessler, Ästhetiker und Kunstphilosoph, entstand die Bewegung als Reaktion auf den offiziellen Kanon und als rumänischer Ausdruck der neuen europäischen Strömungen.



    Viele dieser neuen Kreationen und Konzepte entstanden aus reiner Not, aus Frust. Und so kam es zu diesem phantastischen, frühlingsverhei‎ßenden Namen und diesem au‎ßerordentlichen Erscheinungsbild im franko-englischen Mix der »Tinerimea artistică«. Der Name selbst klingt nach Aufbruch, nach dem Startschuss für eine Künstlernation“, findet Kessler. Es ging den Anhängern darum, gegen den Kanon der älteren Künstler zu rebellieren. Aber anders als heute, so Kessler, standen hinter den innovativen Ansätzen nicht die Studenten: Es waren nach heutigen Begriffen eher reife Künstler von 30–35 Jahren, die es ganz satt hatten.



    Die »Tinerimea artistică« erschien im Kielwasser der Weltausstellung in Paris zwischen dem 14. April und dem 12. November 1900, der gro‎ßen Ausstellung, die die die Belle Époque prägte. Sie war kultureller Austragungsort für Geopolitik, für Zivilisationsgeschichte und wirkte für die rumänischen Künstler sehr frustrierend“, meint Kessler. Rumänien trat damals als schizoides Land auf, beschreibt er die Lage — es gab einen nationalen Pavillon in Form eines Ölbohrturms, der den Blick in das industrielle Zeitalter Rumäniens offen gab. Doch im Inneren waren Heiligenbilder, Volkstrachten und Bauernkunst zu sehen. Rumänien sah aus wie ein Land mit einem riesigen traditionellen bäuerlichen Kern unter einer sehr dünnen Industrieschale — dieser schizoide Auftritt war perfekt wirklichkeitsgetreu, da über 75% der Bevölkerung am Land lebten, erläutert Kulturphilosoph Erwin Kessler.




    Zur damaligen Zeit war Nicolae Grigorescu der offizielle Maler und Begründer der rumänischen Malerei. Er weigerte sich, in Paris auszustellen, weil der zugeteilte Raum zu klein war, und andere Künstler standen ihm bei. Die Pariser Weltausstellung war der Auslöser der Energie zum Protest gegen den Manierismus in der Kunst. Es entstand dort ein Riss für die Moderne. Die zweitbesten Maler sagten nämlich: Wir wollen dabei sein. Keine Karrieresüchtigen, sondern Maler wie Ştefan Luchian und Theodor Pallady, die zum Glück auch sehr gut waren. Sie haben die Herausforderung angenommen, sich auf kleinstem Raum in einer Ecke des Grand Palais zu zeigen“, erklärt Erwin Kessler.



    Der Saal im Grand Palais war derart klein und unbequem und isoliert, dass die Künstler rebellierten und etwas Besseres für ihre Zukunft anstrebten. Unzufrieden, gründeten etwa ein Dutzend Künstler, die in Paris und München studiert hatten, am 3. Dezember 1901 die Tinerimea artistică“. Zu ihnen gehörten Ştefan Luchian, Gheorghe Petraşcu, Frederick Storck, führt Ästhetiker Erwin Kessler aus. Obwohl die Gruppe für einen neuen Kanon eintrat, für mehr Realismus und soziale Themen in der Kunst, war sie doch eher elitär ausgerichtet. Die »Tinerimea artistică« war ja nicht die erste Künstlergesellschaft, schon 1890 wurde der Künstlerkreis, der »Cercul artistic«, gegründet — das war aber eine Sammelbewegung. Wer wollte, konnte dort beitreten. Die »Tinerimea artistică« ist jedoch eine Elitegruppe, die von 1901 bis zum Verbot durch die Kommunisten 1947 nie ein Ästhetik-Abhandlung, ein Manifest der Mitglieder veröffentlichte“, so Kessler.




    Für die Mitglieder der Künstlerjugend waren Ausstellungen und Kataloge das Ein und Alles. Ausstellungen waren ihr Ziel, das sie konsequent verfolgten. Das war eine Modernisierung, eine Alternative zum offiziellen staatlichen Ausstellungsbetrieb. Diese Ausstellungssalons der Künstlerjugend standen unter dem Zeichen des Moderne; die Gruppe förderte eine Neubelebung der Kunst, aus der sich dann Avantgarde, absurde Kunst und Surrealismus speisten.

  • Gellu-Naum-Festival: “Der Surrealismus ist unsterblich”

    Gellu-Naum-Festival: “Der Surrealismus ist unsterblich”

    In Bukarest und in Comana bei Bukarest kamen alle Dichter zusammen, die auf die eine oder andere Weise dem letzten großen Surrealisten Europas nahe standen. Einen Dialog zwischen Raum und Zeit unterschiedlicher Schaffungsperioden – das hatten sich die Veranstalter mit den zwei großen Begegnungen vorgenommen. Das Erbe der rumänischen Literatur und die zeitgenössische geschriebene Kultur sollten verwertet werden.



    Neben den eigenen Autorenlesungen haben die eingeladenen Dichter versucht, eine möglichst persönliche Antwort auf die Frage zu geben: Wie habe ich zu Gellu Naum gefunden?“ – dabei kramten sie in ihren Erinnerungen und Memoiren, Skizzen und Ideen, die allesamt in Verbindung mit dem großen Dichter des Surrealismus standen.



    Gastgeberin der Veranstaltungen war die Schriftstellerin Simona Popescu. Sie ist die Autorin mehrerer Bänder über den gefeierten Dichter: Von Surrealismus und Gellu Naum“, sowie Clava. Kritifiktion mit Gellu Naum“, ein Band, der einige Jahre nach dem ersten veröffentlicht und mit einer Reihe von Essays bereichert wurde.



    Sie habe jahrelang an der Seite Naums gestanden“ und dabei sei jener Sinn für die existentielle Würde immer klarer geworden, die den Grundsatz der Poesie darstelle, sagt Simona Popescu. Er hatte einen dringenden innerlichen Bedarf für Reinheit und deshalb war Naum kompromisslos mit ihm selbst und dann mit den anderen. Er versuchte sich nicht mit ihnen zu vermischen, mit ihren Fehlern. Die eigenen Fehler verursachten ihm einen tiefen Schmerz. (…) Er beging einen Fehler, also distanzierte er sich von dem Zentrum der poetischen Existenz. Die kleinste Abkehr von seinen Grundsätzen brachte Disharmonie, Trübheit und Feindseligkeit mit sich.“



    Simona Popescu hatte die Idee von einem Gellu-Naum-Festival gegen Ende des Jubiläumsjahres 2015. Der Dichter kam am 1. August 1915 zur Welt. Da ein Großteil der Kritik Naum als letzten großen Surrealisten beschreibt, fragte ich Simona Popescu ob man heute noch überhaubt von Surrealismus reden kann?



    Den Surrealismus gibt es noch, es sind surrealistische Dichter, die heute noch schreiben, weltweit gibt es sehr interessante Gruppen. Ich würde gerne die surrealistische Gruppe aus London bei kommenden Festivalausgaben hier haben, oder die schwedische Gruppe, die Prager Surrealisten. Es gibt auf dieser Welt Surrealisten, die sich selbst als solche vorstellen. Also gibt es die Strömung nach wie vor in der Literatur. Andererseits ist der Surrealismus, jenseits von Literatur und Vorurteilten, unsterblich. Ebenso wie die Romantik und alle literarischen Strömungen überhaupt unsterblich sind. Wir sind alle in unserer eigenen Art und Weise Surrealisten, zumindest wenn wir träumen. Wenn wir träumen sind wir alle Surrealisten, aber, ob wir es wollen oder nicht, sind wir alle auch Romantiker und Postmodernisten oder Klassizisten. Diese Dinge bekommen hin und wieder einen Namen. Den Surrealismus hat es schon immer gegeben, aber erst in den 30er Jahren bekam er einen Namen, als ihn die französischen Surrealisten theoretisierten, sie hatten den Begriff von Apollinaire übernommen. Also reden wir auch heute noch vom Surrealismus und das wird bis ans Ende der Welt der Fall sein.



    Die Dichtkunst ist eine Form höherer Unzufriedenheit“, schreibt Simona Popescu. Denn sie hinterfragt Grundsätze, Systeme, Hierarchien und lehnt sich gleichzeitig heldenhaft gegen die Vulgarität auf, die einen immer menschlicheren Antlitz hat. Das, während die Unzufriedenen dieser Welt jene schrecklichen Stürme suchten, um ihre Kräfte zu messen.“ Das Zitat stammt aus Mein müder Vater“ von Simona Popescu.



    Zu den Gästen des Gellu-Naum-Festivals gehörte auch Nora Iuga, die seit ihrem Debütband mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht wurde. Sie sagt:



    Ich bin absolut davon überzeugt, dass Surrealisten so geboren werden, das heißt, ich glaube nicht, dass aus Werkstätten für kreatives Schreiben ein surrealistischer Dichter entstehen könnte. Es stimmt schon, der Dichter Miron Radu Paraschivescu ist derjenige, der das Vorwort zu meinem Debütband geschrieben hat. Er sagte, zwischen mir und Gellu Naum bestünde eine gewisse Nähe. Seitdem hat es in Rumänien keine derartigen Vergleiche mehr gegeben. Ich gehörte nicht einmal zu der Gruppe der literarischen oder nichtliterarischen Freunde Gellu Naums. Ich habe Naum später kennen gelernt, weil seine Werke während der stalinistischen Zeit nicht in Umlauf waren. Ich habe sehr spät von dem Wort Surrealismus gehört, etwa Mitte der 60er Jahre. Und da habe ich eigentlich auch das erste Gedicht von Gellu Naum gelesen, es hieß Athanor. Ich las es und habe dabei eine Art elektrischen Schock verspürt, ich war sprachlos, ich hatte zwar nicht viel verstanden, aber es hatte mir ungemein gefallen. Weil ich bis dato noch nie so etwas gelesen hatte und ich nicht gewuss hatte, dass man so denken oder schreiben kann, ohne etwas zu verstehen, aber mit dem Gefühl einer derartig vibrierenden Schönheit, jenes ständigen Unerwarteten. Das war für mich der Moment, in dem ich mir bewusst wurde, dass ich oftmals das Unverständliche vorziehe, also das, was nichts ähnelt und was unverständlich bleibt, weil dort das große Geheimnis weilt. Und dieses große Geheimnis beherrscht unser Leben.

  • Der Surrealist Gherasim Luca

    Der Surrealist Gherasim Luca

    Dieses Jahr wird der 100. Jahrestag der Geburt des Avantgarde-Schriftstellers Gherasim Luca gefeiert. In der monatlichen Kulturzeitschrift Dilemateca“ schrieb der Literaturkritiker Petre Răileanu über einen Text, der den Korpus des rumänischen Surrealismus mit einer seiner wesentlichen Schriften vervollständigt“ — es handelt sich um die Entdeckung des rumänischen Manuskripts von Gherasim Lucas Der passive Vampir“. Bislang ging man davon aus, dass Gherasim dieses Werk ausschlie‎ßlich auf frazösisch geschrieben hatte. Man kannte nur die urprüngliche französiche Fassung: Le Vampire passif, herausgegeben 1945 in Bukarest vom Verlag Editions de l’Oubli“. Das in rumänischer Sprache ausgearbeitete Manuskript trägt eine besondere Wichtigkeit für die Analyse literarischer Werke von Gherasim Luca.



    Der als Salman Locker geborene und später als Gherasim Luca bekannt gewordene Schriftsteller wurde in Bukarest in einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater, Berl Locker, war Schneider und starb 1914. Luca war in vier Sprachen flie‎ßend: Jiddisch, Rumänisch, Deutsch und Französich.



    1938 begann er häufig nach Paris zu reisen. Dort schloss er sich schnell der surrealistischen Strömung an. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die darauffolgende Verstärkung des Antisemitismus in Rumänien zwangen den Schriftsteller ins Selbstexil. Im Zeitraum 1945-1947 gründete er in Bukarest eine Gruppe surrealistischer Schriftsteller, der gro‎ße Namen der rumänischen Literatur angehörten: Gellu Naum, Paul Păun, Virgil Theodorescu und Dolfi Trost. Kurz danach beginnen die Schriftsteller, Gedichte in Französisch zu veröffentlichen. Gherasim Luca gilt als Erfinder der Kubusmanie und zusammen mit Dolfi Trost als Autor der berühmten Manifestschrift Dialectica dialecticii/Die Dialektik der Dialektik“. Der Schriftsteller, der in seinem Heimatland Rumänien ständig verfolgt wurde, flieht 1952 aus dem Land und lässt sich in Paris nieder.



    Gherasim Luca begang am 9. Februar 1994 Selbstmord. In den literarischen Kreisen seiner Zeit wurde er auch unter den Namen Zolman Locker, Gherashim Luca, Costea Sar und Petre Malcoci bekannt. In der Weltliteratur bleibt er als renommierter Theoretiker des Surrealismus und Dichter, dessen literarischen Ideen oftmals von Gilles Deleuze und Félix Guattari zitiert wurden. Als junger Schriftsteller schlioss er sich der Avantgardebewegung an und galt als wesentliches Mitglied der literarischen Gruppe Alge“ in den 1930er Jahren. Später schloss er sich in der zweiten surrealistischen Welle der von Gellu Naum, Victor Brauner und Jack Herold gebildeten Gruppe an.



    Gherasim Luca macht aus dem Passiven Vampir ein Wahrzeichen seines lyrischen Universums. Es kommen Vorschläge und Einflüsse aus Autoren zusammen, die in der rumänischen Phase seines Werks ständige und nachdrückliche Referenzen darstellen: Sade, Lautréamont, Rimbaud, Huysmans, Breton. Diese werden mehr oder weniger im Text erwähnt.“ Diese Worte stammen aus der Einleitung zum Band Der passive Vampir von Gherasim Luca, der beim Vinea-Verlag vorbereitet wird. Prof. Dr. Ion Pop, einer der Exegeten von Gherasim Luca, erläutert das späte Leben und Schaffen des Schriftstellers:



    Es ist wahr, dass Gherasim Luca in seinen letzen Lebensjahren mit einigen Lesungen einen sensationellen Erfolg feierte. Er hatte auch ein wahres Vortragstalent, ich habe ein paar Aufnahmen von ihm gesehen und gehört. Da hatte er einen ganz deutlichen rumänischen Akzent. Er veröffentlichte weiter zahlreiche originelle Bücher und setzte auf eine Art Homophonie, auf eine Art Wortspiel, weil die spielerische Seite der Sprache bei ihm stets eine wichtige Rolle einnahm. Gherasim Luca ist einer der wichtigen Namen der französischen Dichtung und der Mensch hatte ein sehr interessantes Leben. Er pflegte seine Beziehungen zu einigen Freunden in Rumänien. Dennoch lebte er in Isolation und wurde deswegen erst relativ spät bekannt.“



    Um seinen 100. Geburtstag zu feiern, hat das Nationale Bauernmuseum in Bukarest dem surrealistischen Dichter Gherasim Luca einen Abend gewidmet. An dieser Veranstaltung nahm auch der Dichter Valery Oişteanu aus den USA teil.



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