Tag: Täter

  • Häusliche Gewalt gegen Frauen nahm während des Lockdowns zu

    Häusliche Gewalt gegen Frauen nahm während des Lockdowns zu

    Seit dem Beginn der Pandemie und der Einführung der ersten Freizügigkeitsbeschränkungen im Frühjahr 2020 wurde signalisiert, dass die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt weltweit sprunghaft ansteigt. Die EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Rumänien, bildeten da keine Ausnahme, und die Frauen hatten in mancher Hinsicht noch grö‎ßere Schwierigkeiten als sonst zu bewältigen, sagt Andreea Rusu, Geschäftsführerin des FILIA-Zentrums, einer Vereinigung, die sich für den Schutz der Rechte von Frauen einsetzt:



    In Rumänien gab es in den ersten neun Monaten des Jahres mehr als 20.000 Fälle von Schlägen oder anderer häuslicher Gewalt. Auch die Zahl der Anrufe bei der Notrufnummer 112 war um 18% höher als im gleichen Zeitraum 2019. Gleichzeitig verdoppelten sich während des Notstands die Anrufe bei der kostenlosen Nummer der Nationalen Agentur für die Gleichstellung von Frauen und Männern, bei der sich Frauen über die Dienste informieren können, die sie im Falle von Gewalt nutzen können. Frauen waren auch mit anderen Hindernissen konfrontiert. Um zum Beispiel von zu Hause aus eine einstweilige Verfügung zu beantragen, benötigten sie einen Internetzugang, einen Computer und einen Drucker. Aber jeder wei‎ß, dass es in Rumänien in ländlichen Gebieten keinen Internetzugang gibt, vor allem nicht in den benachteiligten Gebieten. Viele Frauen haben einfach nicht die notwendigen technischen Mittel zu Hause, um das zu tun.“




    Während des Notstands, der von März bis einschlie‎ßlich Mai 2020 verhängt wurde und die Bewegungsfreiheit stark einschränkte, waren viele Frauen praktisch in ihren Häusern mit den Gewalttätern gefangen. Sie konnten das Haus nicht verlassen und hatten niemanden, an den sie sich um Hilfe wenden konnten. Abgesehen davon, dass der Antrag auf eine einstweilige Verfügung online gestellt werden musste, wurden auch einige Gerichte geschlossen oder deren Personalbestand reduziert. In den meisten Fällen hatten die misshandelten Frauen den Eindruck, dass zu diesem Zeitpunkt die öffentliche Gesundheit im Vordergrund stand und die Sicherheit und Unversehrtheit der Misshandelten für die Behörden irrelevant geworden war. Zu diesem Schluss kommen jedenfalls die Nichtregierungsorganisationen. Andreea Rusu:



    Viele Frauen mussten zu ihren Aggressoren nach Hause zurückkehren oder waren im selben Haus gefangen, entweder weil sie Angst hatten, es zu verlassen, weil sie sich vor dem Virus fürchteten, oder einfach weil sie wegen des Aggressors mit niemandem sonst reden konnten. In anderen Ländern gab es Möglichkeiten für die Opfer häuslicher Gewalt, die Polizei oder die Sozialämter zu alarmieren, z.B. durch das Wählen spezieller Nummern auf WhatsApp oder den Gang zu einer Apotheke, wo sie einen bestimmten Code sagen mussten. Wenn man mit einem Aggressor im Haus ist, ist es sehr schwierig, NGO oder Sozialhilfebüros zu kontaktieren und um Hilfe zu bitten. Ein Opfer kann nicht immer die 112 anrufen, und die Anrufe von Opfern werden nicht immer als Notfall betrachtet.“




    Unter diesen Umständen haben die Opfer dennoch Hilfe bekommen, auch mit Hilfe der digitalen Technik. Sie fragen sich vielleicht, wie die Bürger- oder Nichtregierungsorganisationen, die diesen Frauen normalerweise helfen, eingreifen konnten? Andreea Rusu hat die Antwort:



    In den meisten Fällen verlagerten sich die Diskussionen mit den Opfern, die sich einen Internetzugang leisten können oder haben, in die Online-Umgebung. Deshalb ist die Zugriffsrate auf die speziellen Seiten anderer Verbände gestiegen. Es wurden auch mehrere Online-Kampagnen gestartet, um den Opfern in dieser pandemischen Krise zu helfen. Aber leider waren Frauen, die in benachteiligten Gebieten leben und keine Informationen über irgendwelche NGO haben, allein, und ihre Möglichkeiten waren gering, wenn sie überhaupt bestanden.“




    Obwohl die gesamte EU von einer erhöhten Anzahl von Beschwerden über häusliche Gewalt betroffen ist, haben die Mitgliedsstaaten relativ unterschiedlich reagiert, wenn es darum ging, gegen Übergriffe vorzugehen. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) — eine EU-Agentur mit Sitz in der litauischen Hauptstadt Vilnius — hat eine Studie über die Auswirkungen von COVID-19 auf die Opfer häuslicher Gewalt durchgeführt. Veronica Collins, eine Vertreterin des EIGE, erzählt uns im Folgenden mehr über die wichtigsten Informationen, die kurz nach der Einführung der Quarantäne in vielen EU-Ländern aufgenommen wurden:



    In Frankreich haben wir in nur einer Woche einen Anstieg der Meldungen über häusliche Gewalt um 32% festgestellt. In Litauen sahen wir in einem Zeitraum von drei Wochen einen 20-prozentigen Anstieg der Berichte über häusliche Gewalt, verglichen mit dem gleichen Zeitraum im Jahr 2019. Das sind die beiden ersten Zahlen, die wir haben. Die eine Zahl stammt von der litauischen Polizei, die Berichte in Litauen erstellte, und die französischen Berichte kommen aus den Medien. Aber solide, administrative, offizielle Zahlen sind immer noch ziemlich schwer zu bekommen. Und unsere Studie konzentrierte sich auf die Ma‎ßnahmen, die die Mitgliedsstaaten ergriffen haben, um Frauen vor Gewalt zu schützen und den Zugang zu Unterstützungsdiensten, sozialen Schutzräumen und Hotlines zu gewährleisten. Und in einigen Ländern gab es zunächst auch einen Rückgang der Anrufe, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass die Täter immer in der Nähe waren und die Opfer deshalb nicht telefonieren konnten.“




    Die EIGE-Studie zeigt auch die Gründe, warum in Krisensituationen wie der COVID-19-Pandemie die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt ansteigt. Veronica Collins erneut mit Details:



    Die Gründe für den Anstieg der Gewalt gegen Frauen sind vielfältig. Dazu gehört die zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit. Das kann zu Spannungen im Haushalt, zu Spannungen in der Familie führen. Wenn das Opfer finanziell nicht unabhängig ist, was recht häufig vorkommt, wird es noch schwieriger, der missbräuchliche Situation zu entkommen. Wirtschaftliche Unsicherheit, allgemeine Angst und Stress können auch den Alkoholkonsum erhöhen, was ebenfalls zu Gewalt führen kann. Zusammengebrochene Infrastruktur, eingeschränkte Infrastruktur, eingeschränkter Zugang zu Infrastruktur kann die Opfer ebenfalls daran hindern, der sich der misslichen Situation zu entziehen und die nötige Unterstützung zu suchen. Einschränkungen während einer Krise können auch den Zugang zu einem informierten Unterstützungsnetzwerk, wie Freunde und Familie, erschweren.“




    Obwohl einige Mitgliedsstaaten Ma‎ßnahmen ergriffen haben, um die Opfer von häuslicher Gewalt in dieser Zeit zu schützen, zeigt die EIGE-Studie, dass es keine ausreichenden Ma‎ßnahmen gibt und dass eine integrierte Strategie erforderlich ist, die in jeder Art von Krise angewendet werden kann.

  • Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt: Ausstattung mangelhaft, Gesetzgebung unzulänglich

    Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt: Ausstattung mangelhaft, Gesetzgebung unzulänglich

    Häusliche Gewalt ist äu‎ßerst schwer zu definieren, egal ob man ein zufälliger Zeuge oder ein Therapeut ist, der sich um die Gewaltopfer kümmert. In der soziologischen bzw. kriminologischen Forschung werden unterschiedliche Definitionen von häuslicher Gewalt verwendet. So beinhalten juristische Definitionen meist nur die reinen Straftatbestände, während in vielen soziologischen bzw. psychologischen Definitionen die Motivation des Täters ebenfalls mit einbezogen wird. Einerseits wird häusliche Gewalt folgenderma‎ßen definiert: Häusliche Gewalt liegt vor, wenn Personen innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen“; laut einer anderen Definition wird jede Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, die unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird“ als häusliche Gewalt betrachtet.



    Neben den aggressiven Handlungen eines oder beider Beteiligten wird häusliche Gewalt also auch von anderen Faktoren bestimmt. Es besteht eine emotionale Bindung zwischen der Gewalt ausübenden Person und dem Opfer, welche auch mit einer räumlichen Trennung vorerst nicht beendet ist. Die Gewalt wird in der Wohnung, im gemeinsamen Haushalt, d.h. im privaten Raum ausgeübt. Diese Tatsache hat Konsequenzen für das Sicherheitsgefühl des Opfers. Die körperliche und/oder die psychische Integrität des Opfers wird durch die aggressive Handlung wiederholt verletzt. Die Gewalt ausübende Person nutzt ein existierendes Machtgefälle zu seinem Opfer aus oder schafft ein solches, um es anschlie‎ßend auszunutzen.



    Alle Formen der häuslichen Gewalt werden in Rumänien durch das Gesetz 217/2003 zur Vorbeugung und Bekämpfung der häuslichen Gewalt geahndet. Laut einem Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte wurde im Jahr 2015 in Rumänien eine von vier Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. Mehr als 70% der misshandelten Frauen haben keine Anzeige erstattet. Ein Grund dafür sei das fehlerhafte Gewaltschutzgesetz 217/2003, meint Andreea Bragă, Leiterin des Zentrums Filia, einer Nichtregierungsorganisation, die gegen Geschlechtsdiskriminierung kämpft:



    Das Gewaltschutzgesetz von 2003 wurde im Jahr 2012 novelliert, unter anderem mit einer Schutzanordnung, einem absolut notwendigen Instrument zum Schutz der Opfer von häuslicher Gewalt. Vorgesehen werden auch Dienstleistungen und finanzielle Zuwendungen für die Opfer, aber oft wurden diese Ressourcen von den Kommunalbudgets nicht gewährt. Daher befinden wir uns in einer schwierigen Lage — 13 rumänische Landkreise haben keine Frauenhäuser oder andere Schutzstellen für Opfer von häuslicher Gewalt. Ferner sichert die erst 2012 eingeführte Schutzanordnung keinen sofortigen Schutz. Das Netz zur Bekämpfung der Gewalt in der Familie, ein Netz mit 24 NGOs, dem auch unsere Organisation angehört, hat die Implementierung der Schutzanordnung von 2012 überwacht. Die Monitoring-Ergebnisse zeigen, dass von der Antragstellung bis zum Inkrafttreten der Schutzanordnung etwa 33 Tage verlaufen.“




    2015 gab es 150.000 Notanrufe wegen häuslicher Gewalt, aber es wurden nur 1.000 Schutzanordnungen ausgestellt. Darüber hinaus erschwert die umständliche Bürokratie die juristischen Schritte, die im Gesetz zum Schutz der Gewaltopfer und zur Bestrafung des Täters vorgesehen werden. Der Rechtsweg ist kompliziert, dauert sehr lange und die Beweismittelführung wird meistens von den Opfern getragen. Hinzu kommen die bedenkliche Wahrnehmung der Nachbarn oder anderer möglicher Zeugen und auch die Zurückhaltung der Behörden bei der Ausstellung der Schutzanordnung. Andreea Bragă, Leiterin des Zentrums Filia, mit weiteren Details:



    Sehr oft meinen die Nahestehenden, dass das Opfer von häuslicher Gewalt selbst daran schuld ist. ‚Du musst doch etwas angestellt haben, er hat dich nicht umsonst geschlagen‘ — bekommt man oft zu hören. Die Behörden sind auch meistens feindlich gesinnt oder versuchen, das antragstellende Opfer zu entmutigen. Manche Gewaltopfer haben nach Kommentaren von Polizeibeamten ihre Klagen zurückgezogen. Es gibt auch die Ansicht: ‚Wie ist es um das Eigentumsrecht des Gewalttäters bestellt? Wir können ihn doch nicht aus seiner eigenen Wohnung rausschmei‎ßen!‘ Dabei geht es nicht um das Eigentumsrecht, sondern um das übergeordnete Recht des Opfers auf Schutz und Sicherheit. Während der 33 Tage bis zur Ausstellung der Schutzanordnung wohnt das Opfer weiterhin mit dem Täter, oder, wenn das Opfer bei Verwandten oder Freunden Unterkunft findet, bleibt es weiterhin in Kontakt mit dem Täter. Dieser kann mit dem Opfer reden, es bedrohen, oder, im Gegenteil, sehr freundlich sein, um das Vertrauen seines Opfers wiederzugewinnen. Dadurch werden die Opfer entmutigt, ein Gerichtsverfahren einzuleiten oder fortzusetzen.“




    Ungeachtet, ob sie Anzeige erstatten oder ob sie darauf verzichten, suchen viele Frauen, die Opfer von Gewalt in der Familie wurden, Unterstützung bei Wohlfahrtsorganisationen wie z.B. dem ANAIS-Verband. Hier erhalten die Gewaltopfer Rechtsberatung zur Vorbereitung der Dokumente, die bei einem Gerichtsverfahren vorgelegt werden müssen, und vor allem psychologische Beratung in individuellen Therapiesitzungen oder in Gruppentherapie. Aber auch in diesem sicheren, empathischen Rahmen, dauert die Heilung der seelischen Wunden sehr lange, da der Psychoterror, denen die Frauen ausgesetzt wurden, tiefe Folgen hat. Dazu Mihaela Mangu, Leiterin des ANAIS-Verbandes:



    Viele Frauen leiden unter Panikattacken und Angstzuständen, weil sie viel Zeit unter Druck, in unmittelbarer Nähe eines gewalttätigen Partners verbringen. Sie trauen sich nicht mehr, Bewegungen oder einfache Gesten zu machen, die den Gewalttäter provozieren könnten. Wenn eine Frau so lange Zeit unter Druck und Angst lebt, wird es ihr sehr schwer, sich von diesen Angstgefühlen zu befreien. Die Selbstschätzung wird zerstört — wenn der Ehemann seiner Ehefrau jeden Tag sagt, sie sei dumm, sie sei nichts wert, sie werde sich allein nie durchkämpfen, dann glaubt die Frau nicht mehr an sich selbst und akzeptiert schlie‎ßlich die Gewaltsituation in der Familie.“




    Ende Februar ratifizierte das rumänische Parlament das Übereinkommen des Europarats über die Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, die sogenannte Istanbul-Konvention. Die Leiterin des Zentrums Filia, Andreea Bragă, spricht über die Hauptbestimmungen der Istanbul-Konvention:



    Besonders wichtig ist die Einführung der Eilschutzanordnung, die binnen 24 Stunden ausgestellt wird. Für besonders dringliche Fälle stellen die Behörden die Eilschutzanordnung gleich nach der Gewalttat aus. In der Istanbul-Konvention wird auch festgehalten, dass Frauen die meisten Opfer von häuslicher Gewalt sind, als Resultat der historischen Frauendiskriminierung. Das Übereinkommen schreibt vor, dass die Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen der Unterzeichnerstaaten verankert sein muss und dass sämtliche diskriminierenden Vorschriften abzuschaffen sind. Die einzelnen Ma‎ßnahmen sehen eine Rechtsberatung, psychologische Betreuung, finanzielle Beratung, Hilfe im Zugang zu Unterbringungsmöglichkeiten (Einrichtung von Frauenhäusern), Aus- und Weiterbildung sowie Unterstützung bei der Suche nach Arbeit vor. Au‎ßerdem sollen Hilfsangebote für Frauen verbessert und die Menschen über Bildungsangebote für das Problem sensibilisiert werden. Wir hoffen, dass im Lehrplan der rumänischen Schulen auch Unterrichtsstunden über Gleichstellung der Geschlechter, Respekt für den Lebenspartner, Probleme der Gewalt gegen Frauen und Konfliktlösung ohne Gewalt angeboten werden.“




    Rumänien muss umgehend seine Gesetzgebung anpassen, um das Übereinkommen des Europarats über die Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt” zu implementieren.