Tag: Totalitarismus

  • 9. Mai 1945: Europa fand wieder zum Frieden

    9. Mai 1945: Europa fand wieder zum Frieden

    Am 9. Mai 1945 fand Europa nach sechs Jahren Qualen wieder zum Frieden, als Nazideutschland bedingungslos kapitulierte. Während Westeuropa zur demokratischen Normalität zurückkehrte, wurde Mittel- und Osteuropa von der Sowjetunion besetzt und gezwungen, das kommunistische Experiment ein halbes Jahrhundert lang mitzumachen. Vladimir Tismăneanu, Professor für die Geschichte des Kommunismus an der Universität Maryland (USA), macht sich Gedanken über den Krieg und dessen Folgen:




    In der Betrachtung des Krieges in seinen Ursachen, seinem Verlauf und seinen Konsequenzen folge ich der Vision von Hannah Arendt, Arthur Koestler und George Orwell. Es war kein Kampf zwischen einem absoluten Guten und einem Bösen, denn an der Seite der Demokraten in der antifaschistischen Koalition kämpfte auch die stalinistische Sowjetunion — ein totalitäres Reich, das schuldhaft mit Nazideutschland angebandelt hatte“, findet der Politologe. Das Gute war also ein relatives — denn in der Geschichte gibt es kein absolut Gutes, glaubt Tismăneanu, der in einem seiner Bücher über den Teufel in der Geschichte“ schreibt, eine Anlehnung an das Konzept des polnischen Intellektuellen Leszek Kolakowski. Es war der Teufel, der zu dem Zeitpunkt weniger expansionistisch veranlagt schien; ein Teufel, den der Westen brauchte. Doch wer hat unter diesen Umständen den Krieg verloren?




    Im Zweiten Weltkrieg unterlagen faschistische Parteien, Regierungen und Bewegungen. Der Faschismus wurde besiegt und das ist ganz wesentlich. Das jetzt mancherorts das Narrativ des Kriegs umschrieben wird — auch in Rumänien — , dass verschiedene faschistische Bewegungen rehabilitiert werden, dass es neue kollektive Fundamentalismen gibt, tribalistische, rassistische oder uranfängliche Bewegungen — das alles zeigt, dass einige die politische, moralische, militärische Bedeutung des Kriegs verkennen“, gibt der US-Politologe rumänischer Abstammung zu bedenken.




    Ob der Westen sich 1947–48 dem sowjetischen Vorpreschen entgegenstellen konnte, ist heute fraglich. Und die sowjetische Militärpräsenz in Mittel- und Osteuropa war nicht eine Folge eines westlichen Verrats, sondern des Frontverlaufs im Krieg. Rumänien ist ein sonderbarer Fall — es kämpfte an beiden Fronten, landete aber auf der Verliererseite und wurde vom Kommunismus überrollt, sagt Vladimir Tismăneanu:




    Die Verwandlung Rumäniens zu einem radikal rechten totalitären System zwischen dem 6. September 1940 und dem 23. August 1944 hat teilweise mit der Krise der freiheitlichen Demokratie zu tun. Wir müssen immer betonen, dass Rumänien eine Vergangenheit hat, auf die man aufbauen kann — es hat hier eine funktionale konstitutionelle Demokratie gegeben“. Unglücklicherweise, unterstreicht der Politologe, haben linke und rechte Kräfte den Einheitsstaat und die konstitutionelle Demokratie fortlaufend angegriffen. Mehrere Premierminister wurden von Kommandos der Faschisten hingerichtet, Mord wurde zum Bestandteil des politischen Klimas. Die Politik war ihrerseits nicht wehrhaft. Dass Rumänien sich an die Seite der Achsenmächte stellte, war kein Schicksalsschlag, sondern das Ergebnis einer Verkettung von Fehlern.




    Kann man heute noch aus diesen Fehlern lernen? Gewisserma‎ßen schon, findet Tismăneanu. Jede Illusion über ideokratische Systeme, über ideologiebasierte Diktaturen ist kurz- und mittelfristig, aber besonders langfristig ein Fehler. Wir sehen das gerade heute. Ich glaube nicht, dass es in China einen Plan gab, das Covid-Virus in die Welt zu setzen. Aber die Geheimniskrämerei, das Verschweigen — sie sind Teil des Totalitarismus. Was jetzt passierte, war ein Pendant von Tschernobyl, ein globales Tschernobyl. Man kann vieles lernen aus dem Krieg, aber die wesentliche Lektion ist, dass wir keine Kompromisse eingehen dürfen, wenn Freiheit, Vertrauen, und die Wahrheit angegriffen und erniedrigt werden“, so Vladimir Tismăneanu.

  • „L’homme qui n’adhère à rien“ – die ideologischen Irrwege des Panait Istrati

    „L’homme qui n’adhère à rien“ – die ideologischen Irrwege des Panait Istrati

    Panait Istrati hat sich als junger Schriftsteller der kommunistischen Bewegung angeschlossen. Er ist auch einer der Intellektuellen, der sich nach einem kurzen Besuch in der Sowjetunion von dieser politischen Ideologie abwendet. Der Politikwissenschaftler und Publizist Ioan Stanomir erläutert den politischen und intellektuellen Werdegang des Schriftstellers:



    Die Beweggründe seiner Hinwendung in jungen Jahren zum Kommunismus ist — genau wie bei anderen Intellektuellen der Zeit in Europa — die Unzufriedenheit mit der damaligen sozialen Ordnung. Wie dürfen nicht vergessen, dass Panait Istrati erstens ein Sozialist war, ein Anhänger und guter Bekannter des bulgarischen Revolutionärs Christian Rakowski, ein Zeuge der Streiks, die Anfang des 20. Jahrhunderts unterdrückt wurden. Nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass Istrati aus bescheidenen, ja prekären Verhältnissen stammte. Das alles mag ihn in seiner späteren Befürwortung des Kommunismus beeinflusst haben. Eine ausschlaggebende Rolle spielte dabei aber auch die Tatsache, dass er mit französischen Intellektuellen Kontakte knüpfte. Im französischen Kulturmilieu galt er als ein wahrer Gorki des Balkans, als Stimme der Verfolgten und Unterdrückten. Nicht zufällig habe ich den Vergleich mit Gorki erwähnt, die Schicksale Panait Istratis und Maxim Gorkis unterscheiden sich auf den ersten Blick voneinander, im Grunde genommen sind sie sich jedoch sehr ähnlich. Istrati war zunächst ein Kommunist, wurde dann aber von der Realität desillusioniert und folgte dem Weg der Nüchternheit, während Gorki hingegen ein Freund und Befürworter der Bolschewiken und Lenins war, der in einer ersten Etappe des Bolschewismus dennoch ins Exil ging. Später kehrte er in sein Heimatland zurück und schloss sich der Ideologie von Stalin an. Istrati und Gorki haben doch etwas gemeinsam: einen europäischen Ruhm und ein ideologisches Engagement, das Bild eines Schriftstellers, der die Berufung hat, den Bedürfnissen der Menschen, aus deren Milieu er selber stammt, Ausdruck zu verleihen.“




    1927 besuchte Istrati Moskau und Kiew. 1929 reist er wieder in die Sowjetunion und das ist der Zeitpunkt, an dem er den Schleier vor den Augen fallen lässt. Dem jungen Intellektuellen wird dann klar, dass das kommunistische Regime seine Worte nicht in Taten umsetzte. In seinem politischen Reisebericht Vers lautre flamme. Confession pour vaincus“ (rumänischer Titel: Spre o altă flacără”, deutscher Titel: Auf falscher Bahn. Geständnisse für Besiegte“), erschienen in französischer Sprache, prangert er den Totalitarismus der kommunistischen Ideologie an. Nachdem das Buch veröffentlicht wird, sieht sich der Schriftsteller Faschismus-Vorwürfen ausgesetzt. Dazu Ioan Stanomir:



    In zahlreichen Fällen war eine Reise in die Sowjetunion in der Regel kein Anlass, sich vom Kommunismus abzuwenden, sondern hingegen ein Anlass, sich in diese Ideologie weiter zu vertiefen. Die Ausnahmen bestätigen aber die Regel und es gibt wenige Intellektuelle der Zeit, die die Kraft finden, diesen ideologischen Schleier über die Augen zu lüften. Der englische Schriftsteller Herbert George Wells hat beispielsweise die Sowjetunion besucht und die Reise wirkte sich überhaupt nicht auf seine Weltanschauung aus. Es gibt zwei Namen, die hingegen ein gutes Beispiel für die Ernüchterung darstellen: Panait Istrati und André Gide. Die beiden sind nach Moskau gereist und haben Bücher geschrieben, die sie in heikle Situationen ihren Kampfgenossen gegenüber brachten. Nachdem Istrati »Auf falscher Bahn« geschrieben hatte, wurde ihm vorgeworfen, er würde den antifaschistischen Kampf verraten und eine Verleumdungskampagne gegen die Sowjetunion führen.“




    Panait Istrati prangert aber die Verbrechen von Stalin, nicht die kommunistische Ideologie an. Er bleibt ein Anhänger von Trotzki und gilt als einer der Intellektuellen, die nach einer reinen, unbefleckten Seele der Revolution“ suchten. Ioan Stanomir ist der Ansicht, dass Istrati eigentlich nur dem Stalinismus den Rücken kehrt:



    Trotzki war ein bewaffneter Prophet, der gegen sein eigenes Volk vorging. Die rote Armee, die Trotzki gegründet hatte, war ein Unterdrückungsinstrument gegen das russische Volk. Die rote Armee hat im russischen Bürgerkrieg die Bauern vernichtet. Trokzi stellte die antibürokratische und antitotalitäre Alternative aus Sicht der radikalen Linken dar. Istrati wendet sich von der politischen Ideologie Lenins ab, weil er einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Leninismus aus Sicht der Linken und dem Stalinismus aus Sicht der antistalinistischen Linken merkt. Istrati streift seine linksextremistischen Überzeugungen niemals ab, sieht aber ein, dass Stalins Russland die Prinzipien Lenins nicht einhält. Genau wie andere Intellektuelle lässt sich Panait Istrati täuschen, dass der Leninismus unterschiedlich vom Stalinismus und dass der Leninismus kein totalitäres Regime sei.“




    Wie hat das kommunistische Regime in Rumänien den Schriftsteller für seine Zwecke instrumentalisiert? Dazu Ioan Stanomir:



    Panait Istrati wird in den 1960er Jahren in Rumänien ideologisch ausgeschlachtet. Es war kein Zufall, dass gerade in jenen Jahren die rumänisch-französische Kooperation in vielen Bereichen ausgebaut wurde. Aus der Zeit stammt die rumänisch-französische Film-Koproduktion »Codin«, die auf einem Text von Istrati beruht, ebenso die Verfilmung seines Romans »Die Disteln des Baragan«. Bei der Wiederanspornung der Beziehungen zu Frankreich spielte sein literarischer Nachlass auf jeden Fall eine ausschlaggebende Rolle. Istrati war ein geistiges Kind Frankreichs, ein balkanischer Gorki, der von dem linken Kulturmilieu Frankreichs gefördert wurde. Zu jenem Zeitpunkt waren zahlreiche französische Kommunisten nach Rumänien gekommen, Regisseure aus Frankreich machten sich für eine volksdemokratische Filmkunst in Rumänien stark. Zahlreiche Werke Istratis wurden dann ins Rumänische übersetzt, weil ein guter Teil ursprünglich auf französisch verfasst worden war. Wenn man einen Blick in die rumänischen Werkausgaben jener Zeit wirft, ist die Interpretation seines Lebenslaufes im Vorwort ebenfalls aufschlussreich: Istratis Abkehr vom Stalinismus sei zwar ein gravierender zeitweiliger Fehler gewesen, den er jedoch durch seine Verdienste um die Arbeiterbewegung wieder gut zu machen vermocht habe.“




    1933, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Panait Istrati den Essay L’homme qui n’adhère à rien“ (zu dt. in etwa Der Mensch, der sich zu nichts verpflichten lässt“), in dem er dem Stalinismus erneut eine Absage erteilte und seine Unabhängigkeit innerhalb linker Ideologien betonte.