Tag: Zeitgeschichte

  • Revolution von 1989: Wie nimmt die junge Generation die historischen Ereignisse wahr?

    Revolution von 1989: Wie nimmt die junge Generation die historischen Ereignisse wahr?

     

     

    Seit 1989 gedenken die Menschen in Rumänien im Dezember der antikommunistischen Revolution. Fast ein halbes Jahrhundert hatte ihnen das kommunistische Regime ihrer Rechte und Freiheiten und sogar ihrer menschlichen Würde beraubt. Im Unterschied zu anderen Ostblockstaaten wurde die Rückkehr zur Demokratie und zur Normalität im Dezember 1989 außerdem durch Blutvergießen erreicht.

    35 Jahre später lässt die emotionale Aufladung des Gedenkens nach, und die zeitliche Entfernung trägt zu einer zunehmend distanzierten Berichterstattung über die damaligen Ereignisse bei. Die neuen Generationen blicken auf den Dezember 1989 zwar mit der Neugierde für Ereignisse, die sich nicht hautnah erlebt haben. Doch besorgniserregend ist die Tatsache, dass viele junge Menschen heute nicht begreifen, was das totalitäre politische Regime für das Land und das Leben ihrer Eltern und Großeltern bedeutete.

     

    Die Historikerin und Schriftstellerin Alina Pavelescu entstammt der Generation, die die Revolution von 1989 erlebt und an ihr mitgewirkt hat. Sie hat ein Buch veröffentlicht, mit dem sie den Jugendlichen von heute vermitteln will, wie das Leben der Jugendlichen von damals war und wie es zur Revolution kam. Das Buch trägt den Titel „Die Revolution von 1989 – ein Nacherzählung für jene, die sie nicht erlebt haben“, und wir haben die Autorin gefragt, ob es eine Botschaft des Jahres 1989 für die Nachwelt gibt und ob es ihrer Generation gelungen ist, sie zu entziffern.

    Natürlich hätten wir das Vermächtnis des Jahres 1989 weitertragen müssen, um uns selbst zu finden und zu verstehen, was in den letzten 35 Jahren mit uns geschehen ist. Das ist uns bisher nicht gelungen, und wir können nur hoffen, dass wir von nun an weiser werden. Ich kann nur ein persönliches Zeugnis ablegen, und das ist die Bekundung eines Zeitzeugen, der auch 35 Jahre später noch eine große emotionale Belastung im Zusammenhang mit der Revolution verspürt. Dieser emotionale Ballast hindert uns daran, die Dinge klar zu sehen. Aber zumindest können wir unsere Geschichten so ehrlich erzählen, dass Menschen, die jünger sind als wir, heute begreifen, wie die Revolution von 1989 auch ihr Leben verändert hat. Und ich meine, dass sie ihr Leben zum Besseren verändert hat. Wenn meine Generation den Sinn der Ereignisse von 1989 nicht eruieren kann, schafft es vielleicht die junge Generation von heute, die Bedeutung dieser historischen Veränderung für ihr Leben zu begreifen.“

     

    Alina Pavelescu hatte das Gefühl, dass sie der heutigen und der kommenden Generation etwas über 1989 zu sagen hat. Ein Buch sei der geeignetste Weg gewesen, dies zu tun.

    Ich habe mir vor allem vorgenommen, junge Menschen zum kritischen Denken anzuregen. Mir ist klar, dass sie mit verschiedenen Geschichten und verschiedenen Versionen konfrontiert sind und sich wahrscheinlich fragen, wo die Wahrheit bei all den unterschiedlichen Darstellungen liegt. Deshalb habe ich im Buch zunächst alle Theorien und Hypothesen, die ich in den Diskursen über die Revolution identifiziert habe, mit ihren Pro- und Contra-Argumenten Revue passieren lassen. Aber ich gebe zu, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, den Lesern im Nachwort zu dieser Abhandlung ausdrücklich zu sagen, dass die Revolution von 1989 tatsächlich eine solche war, weil sie unser aller Leben radikal verändert hat. Wir verdanken ihr die Freiheit der letzten 35 Jahre, auch wenn wir damals nicht wirklich wussten, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollten, und wir stets das Gefühl hatten, dass sie uns jemand vor der Nase wegschnappt. Heute haben wir diese Freiheit immer noch, und das verdanken wir der Revolution von 1989 und den Menschen, die sich damals auf der Straße vor die Gewehrläufe gestellt und ihr Leben geopfert haben.“

     

    Doch wie ist Alina Pavelescu beim Schreiben ihres Buchs vorgegangen? War ihre Herangehensweise eher die einer Historikerin oder die subjektive Wahrnehmung der Schriftstellerin?

    Ein Historiker sollte eine kohärente und soweit wie möglich wahre Geschichte liefern, so nah wie möglich an der Schnittmenge der Wahrheit unterschiedlicher Ereignisse. Er muss nicht notwendigerweise Lektionen erteilen oder Interpretationen liefern, die über das persönlich Erlebte hinausgehen, auf das wir alle ein Recht haben. Aber ich fürchte, dass in Osteuropa und besonders in Rumänien, wo die Geschichte viel zu oft das Terrain politischer Kämpfe ist, die Historiker es nie wirklich schaffen werden, im Elfenbeinturm der abstrakten Geschichtsschreibung zu bleiben. Folglich denke ich, das Ehrlichste, was wir tun können, ist, zu versuchen, das Beste aus unserer Perspektive und aus der Perspektive des historischen Kontextes zu liefern. Ich glaube nicht, dass wir uns im Elfenbeinturm einschließen sollten, und ich glaube auch nicht, dass der Elfenbeinturm eine realistische Option ist. Gleichzeitig sollten wir aber auch nicht zulassen, dass Politiker unser Studienfach, nämlich die Geschichte, als Schlachtfeld für ihre ideologischen Grabenkämpfe missbrauchen.“

  • Geschichte des Kommunismus: Wie sich die Securitate vom KGB emanzipierte

    Geschichte des Kommunismus: Wie sich die Securitate vom KGB emanzipierte

     

     

    Es war der bis dahin kremltreue Bukarester Kommunistenführer Gheorghe Gheorghiu-Dej, der diese Emanzipationspolitik zunächst zögerlich und zurückhaltend einleitete. Sein Nachfolger Nicolae Ceaușescu sollte den sogenannten Unabhängigkeitskurs zementieren und zum Anlass nehmen, allmählich eine Personaldiktatur mit neostalinistischen Zügen zu errichten.

    Der General (a.D.) Neagu Cosma war Offizier in der Direktion für Spionageabwehr des Ministeriums für Staatssicherheit, die er jahrelang auch leitete. Im Jahr 2002 erinnerte er sich in einem Interview mit dem Zentrum des rumänischen Rundfunks für mündlich überlieferte Geschichte an die Umstände der Abkehr vom KGB.

    Solange die Sowjets hier waren – und sie waren wirklich mächtig, sie hatten überall ihre eigenen Leute an den Hebeln der Macht, in der Politik wie in den Geheimdiensten –, waren die Dinge recht einfach. Es wurde alles à la Kreml gehandhabt – soll heißen: mit der Brechstange. Massenverhaftungen waren damals aus allerlei Gründen und sogar wegen Lappalien an der Tagesordnung. Die Rolle der sowjetischen Berater, die eigentlich verdeckte KGB-Offiziere waren, bestand darin, den Kommandanten der jeweiligen Einheiten und den Leitern staatlicher Institutionen ständig auf die Finger zu schauen. Es gab einen Berater auf Ministerialebene, den Chef aller Berater, und mehrere Berater bei allen untergeordneten staatlichen Stellen. Auf Ersuchen des Ministers oder des jeweiligen Behördenleiters schalteten sie sich ein. Wenn wir beispielsweise ein Problem in der Orientierung, der Technik, der Arbeitsmethodik hatten, legte man das Thema dem sowjetischen »Berater« vor, und dieser schöpfte aus seiner unermesslichen »Erfahrung« – so hieß es damals – und kam mit einer Lösung auf. Das war zumindest die theoretische Rolle der sowjetischen Berater. In der Praxis haben sie sich rücksichtslos in alles eingemischt. In Wirklichkeit waren die sowjetischen Berater Führungsoffiziere von Spionagenetzwerken, die sogar die Strukturen der Securitate unterwandert hatten.“

     

    Mit der Zeit wollten sich die rumänischen Geheimdienstler diese Gängelung nicht mehr gefallen lassen. Der ehemalige Securitate-General Neagu Cosma erinnert sich weiter, wie die ersten Schritte eingeleitet wurden, um sich die lästigen sowjetischen „Berater“ vom Leibe zu halten.

    Irgendwann bestellt uns Innenminister [Alexandru] Drăghici zu sich, der verzweifelt darüber war, dass die Sowjets sich überall einmischen. Er sagte: »Leute, lenkt sie doch mit Vergnügungsprogrammen ab! Die mögen doch Angeln, Spaziergänge und Ausflüge, sicherlich sind sie auch Frauen und Wodka nicht abgeneigt. Gebt ihnen, was sie wollen, dann könnt ihr in Ruhe arbeiten.« Doch nach dem Aufstand 1956 in Ungarn waren die Sowjets besonders aufdringlich geworden, bei uns in der Spionageabwehr kreuzten auf einmal sechs solcher »Berater« auf. Die haben uns regelrecht kujoniert, und niemand wusste genau, wofür sie zuständig waren. Im Grunde haben sie Informationen gesammelt, es gab aber keine wirkliche Rechtfertigung mehr für ihre Anwesenheit, und diese war auch nicht mehr durch die Regierungsvereinbarungen gedeckt. Sie waren da, um den Puls des Ortes zu fühlen – aus Angst, dass auch in Rumänien etwas Ähnliches wie in unserer Nachbarschaft passieren könnte, und das wollten sie vereiteln.“

     

    Anfang der 1960er Jahre kam Parteigeneralsekretär Gheorghiu-Dej zu dem Schluss, dass in den rumänisch-sowjetischen Beziehungen eine Grenze überschritten worden war. Die Securitate nutzte ihr eigenes Informations- und Dokumentationszentrum, um die Anwesenheit der KGB-Agenten zu erfassen und diese zu beseitigen. Securitate-General Neagu Cosma wurde damals beauftragt, ein Team von 5–6 tüchtigen und verschwiegenen Beamten zu koordinieren, das mit der Ausarbeitung von Listen mit KGB-Agenten begann.

    Bis 1962 hatten wir einen großen Teil, vielleicht 80 Prozent des KGB-Netzwerks in unserem Land eruiert. Wir hatten keine andere Aufgabe, als dieses Spionage-Netzwerk zu erkennen. Es wurden Tabellen mit kurzen Kommentaren und Notizen erstellt, das gesamte Netzwerk wurde so von oben bis unten durchleuchtet. Dabei berücksichtigten wir auch das alte Spionage-Netzwerk, d.h. die Agenten, die schon während des Kriegs mit den sowjetischen Divisionen (»Tudor Vladimirescu« und »Horia Cloșca und Crișan)«, die aus rumänischen Kriegsgefangenen bestanden, nach Rumänien gekommen waren, sowie die sowjetischen Fallschirmjäger, die damals hier abgesprungen waren – allesamt standen mit den Russen unter einer Decke. Und diese Tabellen wurden dann Generalsekretär Gheorghiu-Dej vorgelegt.“

     

    Die Folgestrategie des rumänischen Staates war recht einfach. Den sowjetischen Spionen wurde klargemacht, dass alle ihre Aktivitäten bekannt seien, und sie wurden vor die Wahl gestellt: Entweder stellen sie ihre Zusammenarbeit mit dem KGB ein, dann würden sie begnadigt, oder ihnen wird kurzerhand der Prozess gemacht. Die meisten von ihnen nahmen das Angebot der Securitate an. Der ehemalige Mitarbeiter der Spionageabwehr bei der Securitate, Neagu Cosma, erinnert sich, welche Kriterien galten, um in die Liste der sowjetischen Spione aufgenommen zu werden:

    In der Anfangsphase hatten wir etwa 180 Spione aus dem ganzen Land auf die Liste gesetzt. Hinzu kamen Personen mit einem weniger sicheren Hintergrund, jedoch mit deutlichen Hinweisen, dass sie sowjetische Spione sein könnten. Zum Beispiel Leute, die in der Sowjetunion studiert hatten und mit russischen Ehefrauen nach Rumänien zurückgekommen waren. Auf den ersten Blick nichts Besonderes – in einer normalen Gesellschaft. Doch mit den Russen funktionierte das nicht so, nichts war normal und wir kannten die Vorgehensweise. Menschen, die mit russischen Ehefrauen aus der UdSSR nach Rumänien zurückkamen, waren uns von Anfang an verdächtig. Und dann haben wir erst einmal alle russischen Ehefrauen unter die Lupe genommen. Viele waren mit Militärs verheiratet, die hohe Positionen in der Armee und im Innenministerium innehatten, ganz zu schweigen von hochrangigen Posten im Wirtschaftsressort. Im politischen Apparat gab es viele Kader, die mit russischen Frauen verheiratet waren. Sicherlich gab es unter ihnen auch fähige Menschen, die nichts verschuldet hatten, sie fielen aber dieser Säuberung sozusagen als Kollateralschaden zum Opfer. Denn letztendlich wurden mit dieser Maßnahme alle sowjetfreundlichen Kader aus den wichtigsten Institutionen entfernt.“

  • Ausstellung: Massenkultur im Kommunismus – größtenteils ideologisch manipuliert

    Ausstellung: Massenkultur im Kommunismus – größtenteils ideologisch manipuliert

    In den 1970er und 1980er Jahren war die Kultur bekanntlich ein bedeutendes Propagandainstrument. Die Ausstellung Cultura de masă în Epoca de Aur“ (Massenkultur im Goldenen Zeitalter des Kommunismus“), die im Bukarester Museum Nicolae Minovici“ stattfindet, wird den zwei Kulturphänomenen der damaligen Zeit gewidmet: dem vom Regime anfangs tolerierten Literaturkreis Flacăra“ (Die Flamme“) und dem öffentlich geförderten nationalen Kunstwettbewerb Cântarea României“. Flacăra“ war eine kulturelle und künstlerische Bewegung, geführt vom Dichter Adrian Păunescu. Der Kunsthistoriker und Kurator der Ausstellung Cosmin Nasui kommt zu Wort mit Einzelheiten über die Ausstellung:



    Kie Kultur ging damals mit Patriotismus, Nationalismus, mit der Folklore einher. Das war zum einen Massenkultur, die sich in erster Linie an die Arbeiterklasse richtete. Sie war als Folge der kulturellen Revolution zu verstehen, die ihr vorangeht und die einigerma‎ßen die Kunst in einem sozialistischen Sinne demokratisiert, denn sie richtet sich nun nicht mehr nur an die kulturelle Elite und Intellektuelle, sondern an das Volk. In diesem Kontext möchte ich auch die ganze Infrastruktur erwähnen, die dafür gegründet wurde, damit diese Kultur auf nationaler Ebene verbreitet wird. Vor 1965 spielten der Hörfunk und die gedruckte Presse eine bedeutende Rolle, nach 1970 sprechen wir mehr von TV und Kulturheimen, später sogar Stadien, wo solche Veranstaltungen stattfanden.“




    Am Anfang schien die kulturelle und künstlerische Bewegung Flacăra“ der westeuropäischen Linie zu folgen. Mit der Zeit wurde der Literaturkreis und der Geist der siebziger Jahre von der Bewegung Cântarea României“ (Loblied an Rumänien“) aus der Öffentlichkeit verdrängt. Die letztere hat die ganze öffentliche Kunstszene allmählich monopolisiert. Der Kunsthistoriker Cosmin Năsui kommt erneut zu Wort mit Einzelheiten:



    Die Jahre von etwa 1970, 1973 bis 1977 gelten als die Zeit, in der dieser nationale Wettbewerb allen Bürgern eine Chance gab, als Künstler in verschiedenen Bereichen aufzutreten. Dann wurde dieses kulturelle Phänomen durch das gleichnamige Festival zentralisiert. Es fand jedes zweite Jahr statt und startete in kleinen Kulturheimen landesweit. Jede Institution hatte ihre eigene Volksmusikband, ihr eigenes Theaterensemble oder ihren eigenen Literaturkreis. Die Bewegung integrierte die Volkskunst in die professionelle Kunst und erreichte somit Bukarest.“




    Die Ausstellung zeigt u.a. Werke, die die Geschichte als Inspirationsquelle hatten. Die einheimischen Inspirationsquellen waren eigen für die 1980er Jahre gedacht, eine Zeit, in der Rumänien sowohl von der internationalen Kultur als auch innerhalb des Ostblocks isoliert war. Infolgedessen konnten die Künstler ihre Inspirationsquelle nur in der Vergangenheit und meistens in der gefälschten Geschichte finden. Ausstellungskurator Cosmin Năsui:



    Zum einen legt die Ausstellung den Akzent auf das Thema der Huldigungen an den kommunistischen Führer, die in der Literatur der 1980er oft vorkamen. Gro‎ße Namen der rumänischen Kunst galten als Autoren dieser Huldigungen, die einen deutlichen Beitrag zum Personenkult des Paares Ceauşescu brachten. Wir, die Forscher, sind der Ansicht, dass man diese Aspekte im Kontext der Zeit verstehen sollen, damit wir auch die Mechanismen dieser Art von Kultur besser verstehen, denn das ist Teil unserer modernen Geschichte, die noch nicht als nationale, einverleibte Geschichte gilt, sondern in der Gegenwart immer noch für Polemik sorgt.“

  • Mikrohistorie: Zeitgeschichte aus Alltagserlebnissen rekonstruiert

    Mikrohistorie: Zeitgeschichte aus Alltagserlebnissen rekonstruiert

    Wer sind wir Rumänen heute, 100 Jahre nach dem Entstehen des modernen Rumänien? Wer sind die rumänischen Bürger, welche Probleme haben sie heute, nach zwei Weltkriegen, mehr als 40 Jahren Kommunismus und fast 30 Jahren Übergang zum Kapitalismus? Welche Spuren haben die historischen Ereignisse auf die verschiedenen Generationen oder die verschiedenen Minderheiten in Rumänien hinterlassen? Wie sehen die Zukunftsträume der Rumänen aus? Auf diese und viele andere Fragen versucht das Projekt Microistoria. Wahre Geschichten live erzählt“ Antworten zu finden.



    Das Projekt Microistoria. România 100. Poveşti adevărate spuse pe viu“ (Microistoria. Rumänien 100. Wahre Geschichten live erzählt“) wurde am 17. Oktober 2017 gestartet und hat jetzt, im März 2018, die zweite Auflage erreicht. Produziert wird das Projekt vom Rumänischen Verband zur Förderung der darstellenden Künste in Partnerschaft mit der Hörspielredaktion des Rumänischen Rundfunks. Microistoria“ hat sich vorgenommen, ein lebendiges Archiv mit Geschichten von normalen, gewöhnlichen Menschen zu erstellen. Wie soll das konkret funktionieren? Es wird ein Casting organisiert, und man führt Interviews mit den Leuten, die einverstanden waren, Geschichten aus ihrem Leben auf einer Bühne vor 100 fremden Leuten zu erzählen. Bis jetzt wurden 13 Geschichten vor dem Publikum erzählt und aufgezeichnet; diese Geschichten findet man jetzt in einem digitalen Archiv auf der Webseite www.microistoria.ro .



    Die Castingleiterin Florentina Bratfanof erzählte uns, wie sie die Teilnehmer fürs Projekt Microistoria“ ausgesucht hat:



    Diese Menschen entdeckte ich nach und nach, einige wurden mir von Mitgliedern des Projektteams empfohlen. Am 15. Januar schickte ich die Einladungen und begann, Gespräche zu führen. Viele meiner Gesprächspartner kannte ich überhaupt nicht. Manche Treffen dauerten sogar drei bis vier Stunden, es waren sehr interessante Gespräche, voller Geschichten. Die Kommunikation war recht intensiv, wie eine Umarmung — die Leute erzählten mir ihre Geschichten, und ich erzählte ihnen meine Geschichten. Ich wollte immer mehr über diese Menschen erfahren, von denen ich im Grunde genommen überhaupt nichts wusste. Ich hatte schon einige Kriterien für die Auswahl — männlich-weiblich, verschiedene Altersstufen, aber sie waren nicht immer entscheidend. Entscheidend waren die Geschichten, die irgendwie relevant wurden. Zum Beispiel war die Geschichte einer Jugendlichen für mich relevant, auch wenn ich doppelt so alt wie dieses Mädchen bin. Entscheidend war auch, abgesehen von den Geschichten an sich, die Art und Weise, wie diese Geschichten erzählt und auf der Bühne dargestellt wurden.“




    Der Regisseur Peter Kerek arbeitete mit den Finalisten, um sie für ihren Bühnenauftritt vor dem Publikum vorzubereiten:



    Bei den Proben haben wir den Geschichtenerzählern die Möglichkeit gegeben, einfach vor dem Publikum (in diesem Fall vor ihren Kollegen von der Gruppe) zu sitzen und nichts zu tun. Sitzen und Nachdenken. Diese Schweigemomente dauerten im Durchschnitt je fünf Minuten. Dann spielten wir Musik dazu. Die Leute schwiegen — jeder für sich selbst oder gemeinsam, in der Gruppe, sie schwiegen auf vielen verschiedenen Weisen. Wir haben praktisch das Tor des Sprechens geschlossen. Dieses Tor öffnete sich dann vor dem Publikum wieder. Wir wollten, dass jeder Teilnehmer während der Schweigeminuten seine eigene Geschichte in seinem Inneren hört. Jeder Geschichtenerzähler sollte erkennen, was ihn an seine Geschichte wirklich interessiert, wie seine Geschichte auf ihn wirkt. Sie sollten die eigenen Geschichten auf eigener Art und Weise betrachten, sie sollten Zuhörer der eigenen Geschichten werden.“




    Das Thema der zweiten Auflage von Microistoria“ war Wie habe ich den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus erlebt und überlebt“. Dana Vlăsceanu kam auch zum Casting. Sie ist 36 Jahre alt und gehört der Roma-Minderheit an. Dana hat erzählt, wie sie von Drogenkonsumentin zur Gründerin eines sozialen Zentrums in Ferentari, einem armen Randbezirk Bukarests, wurde. Sie wollte an dem Projekt Microistoria“ teilnehmen, weil sie an die Macht des guten Beispiels glaubt und davon überzeugt ist, dass ihre Geschichte auch andere Menschen motivieren könnte. Dana Vlăsceanu:



    Ich habe mich weiterentwickelt. Die Leute, die mich seit acht Jahren kennen, wissen es. Ich bin im Grunde dieselbe geblieben, aber ich habe mich zum Guten entwickelt. Ich wollte mehr wissen, mehr lernen, ich habe viel gelernt und lerne jeden Tag etwas dazu. Als Jugendliche hatte ich die Schule nach der 7. Klasse abgebrochen. Nun bin ich als Erwachsene wieder in die Schule gegangen. Ich möchte ein gutes Beispiel für meine Kinder sein. Meine Freunde und Verwandten freuen sich sehr für meine Erfolge. Bei unserem sozialen Zentrum arbeiten wir mit Kindern, wir veranstalten Workshops, Aktivitäten, Weihnachtsfeste. Wir sind sehr präsent in unserer Gemeinschaft. Die Leute in unserem Bezirk, die Probleme oder Fragen haben, kommen zu uns — sie wissen, dass ich ihnen immer mit gutem Rat zur Seite stehe.“




    Der 39-jährige Thomas Mendel ist Zahnarzt. 1988 hat er zusammen mit seiner Familie Rumänien verlassen, um in Israel zu leben. 2003 ist er nach Rumänien zurückgekehrt. Thomas glaubt, dass Geschichten eine Inspirationsquelle sein können. Aus den vielen Begebenheiten, die sein Leben geprägt haben, erzählte er eine Geschichte aus seiner Kindheit. Thomas Mendel:



    1989 kam meine Gro‎ßmutter zu Besuch nach Israel. Sie war damals Mitte fünfzig. Eines Morgens gingen wir zusammen in den Lebensmittelladen, um etwas fürs Frühstuck zu kaufen. Sie blieb plötzlich im Lebensmittelladen stehen und brach in Tränen aus. Dar war für mich als Kind etwas Unfassbares, weil sie eine starke Frau war, die alle Schwierigkeiten in Rumänien überstanden hatte. In jenem Augenblick wurde mir zum ersten Mal klar, wie schlimm das Leben in Rumänien gewesen war, wie die Menschen gelitten hatten. Der Kontrast zwischen den zwei Welten ist äu‎ßerst wichtig. Wir müssen verstehen, wo wir leben und wo wir leben könnten. Die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Freiheit haben einen hohen Preis, aber es lohnt sich, darum zu kämpfen, sogar zu leiden. Wenn man sich dafür einsetzt, wenn man dafür etwas opfert, wenn man mutige Entscheidungen trifft, dann bekommt man auch die Chance, in einer besseren Welt zu leben.“




    Nach zwei Auflagen des Projekts Microistoria“ entstand ein vielfältiges Fresko mit persönlichen Geschichten von Männern und Frauen aus allen Regionen Rumäniens, aus allen sozialen Schichten, aus allen Altersstufen, sagte die Initiatorin und Projektleiterin, die Theaterkritikerin Cristina Modreanu. Wie sieht das gegenwärtige Rumänien aus, betrachtet durch die Geschichten der Menschen, die hier leben? Cristina Modreanu antwortet:



    Es ist ein Rumänien, das ein Trauma erlebt hat, das Trauma der fast 30 Jahre langen Transformation seit der Wende 1989. Das Thema der zweiten Auflage von »Microistoria« war »Wie habe ich den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus erlebt und überlebt«, und daher gibt es viele Geschichten über die Schwierigkeiten des Übergangs. Aber auch bei der ersten Auflage gab es Geschichten, die vom Übergangstrauma geprägt waren. Das Rumänien der Gegenwart ist von historischen Ereignissen aufgewühlt, es ist ein Rumänien, in dem die Menschen nach Ma‎ßstäben suchen und ihren Weg wiederzufinden versuchen. Das heutige Rumänien ist wie eine Arbeitsstelle, aber es ist auch voller Hoffnung und Optimismus, es hat die Kraft, Tragödien zu überstehen und sich selbst neu zu gestalten.“

  • Radio Rumänien – 85 Jahre erlebter Geschichte

    Radio Rumänien – 85 Jahre erlebter Geschichte

    Am 1. November 1928 hat die Rumänische Rundfunkgesellschaft ihr erstes Signal ausgestrahlt und das war auch ihr eigentlicher Anfang. Die Rumänische Rundfunkgesellschaft ist eine der wenigen öffentlichen Einrichtungen Rumäniens, die eine jahrzehntelange Beständigkeit haben. In der noch demokratischen Dekade 1928-1938 brachten die Massenmedien die rumänischen Mediennutzer näher an das europäische Geschehen als im Zeitraum 1938-1989, als das Radio eher ein Propagandamittel der autoritären und totalitären faschistischen und kommunistischen Regime war.



    Der Historiker Eugen Denize ist der Autor der vollständigsten Monografie der Rumänischen Rundfunkgesellschaft in 4 Bänden. Bei der Vollendung seines Werkes 2004 erzählte Denize wie seine Forschungsarbeit der Archive begann, die von 1996 bis 2001 gedauert hat. Das Ergebnis war die erste Synthesegeschichte des Rumänischen Radios.



    Als wir die Vielfalt an Dokumentationsmitteln in den Archiven der Securitate sahen, beschlossen wir, eine Mehrband-Monografie der Rumänischen Rundfunkgesellschaft zu erarbeiten, die ein bedeutendes Phänomen unserer Zeitgeschichte ist. Wir haben das Jahr 1989 als Ausgangsjahr gewählt. Ich war der Meinung, dass, falls ich über 1989 hinaus gehe, ich eine Mehrbereichsstudie gemeinsam mit Politologen und Soziologen unternehmen muss. Ich hätte riskiert, keine reine Geschichte des Rundfunks darzustellen, sondern eher Ausschnitte aus seinem aktuellen Leben. Kurz gefasst enthält der erste Band au‎ßer den Pionierjahren die ersten 10 Jahre der Gesellschaft, von 1928 bis 1938. Ab 1939 wurden in Rumänien nacheinander diktatoriale und totalitäre Regime eingeführt. Somit führte das Radio seine Tätigkeit unter anderen Umständen aus. Bis 1989 wurde es einem besonderen politischen Druck ausgesetzt. Ich kann behaupten, dass es sein Gleichgewicht und seine Basisfunktionen erhalten hat. Der zweite Band beinhaltet den Zeitraum, den wir Zeitraum der rechtsorientierten Diktaturen genannt haben. Es handelt sich um die königliche Diktatur des Königs Karl II., um die legionäre Diktatur und um die Diktatur des Marschalls Antonescu. Der Band endet am 23. August 1944, dem Datum, an dem sich Rumänien den Alliierten angeschlossen hat. Der dritte Band beinhaltet die Zeit des Kommunistischwerdens Rumäniens und die Ära von Gheorghe Gheorghiu-Dej bis zu seinem Tod 1965. Der letzte Band befasst sich mit der Zeit von Nicolae Ceauşescu, 1965 bis 1989, mit der zweitweiligen Öffnung nach 1964 und der späteren Restalinisierung, die zwischen 1971 und 1974 stattgefunden haben. Es sind 4 Bände, die ausschlie‎ßlich das Dokumentationsmaterial aus dem Unterlagen- und Tonarchiv des Radios als Grundlage haben. Aus dieser Sicht handelt es sich um absolute Neuheiten in puncto Geschichtsstudie.“



    Au‎ßer seiner Funktion als Informationsquelle hatte das Radio von Anfang an einen Bildungs- und Kulturauftrag. Aber auch die Unterhaltung war ein wesentlicher Bestandteil des Radios. Eugen Denize:



    Von seinen Anfängen an war der Rundfunk, noch vor der Entstehung der Rundfunkgesellschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft, seiner gut definierten Aufgaben bewusst und diese werden auch in Zukunft dieselben bleiben. Es handelt sich um eine wesentliche kulturelle Funktion. Das Radio hat hochrangige Kultur vermittelt, aber so, dass es für jedermann verständlich war. Somit hat es zur Entwicklung der Kultur selbst und zur Kulturalisierung der Massen beigetragen. Das Radio hat auch eine nationale Funktion. Es hat immer eine wesentliche Rolle in der Förderung und Bewahrung der nationalen Werte gespielt. Dann gibt es auch eine Bildungsfunktion, im wahrsten Sinne des Wortes: Schon von Anfang an hat es viele Sendungen mit medizinischen Ratschlägen gegeben oder darüber, wie man Pflanzen anbaut, Tiere züchtet, Kinder gro‎ßzieht. Es gibt sehr viele Spartensendungen für Kinder, Schüler, für die Armee, für Landwirte. Das Radio hat seinen Bildungsauftrag gut erfüllt. Man darf die berühmten Sendungen der Radiouniversität“ nicht vergessen, wo die grö‎ßten Persönlichkeiten der rumänischen Kultur zu Wort gekommen sind: der Historiker Nicolae Iorga, der Soziologe Mihai Ralea, der Ästhetiker Tudor Vianu, die Schriftsteller Mihail Sadoveanu und Tudor Arghezi u.v.a.. Praktisch waren alle repräsentativen rumänischen Kulturmenschen vor dem Radiomikrophon anwesend. Au‎ßer diesen Funktionen hatte das Radio noch eine weitere Funktion und zwar die Menschen zu unterhalten. Bis zur Erfindung des Fernsehens war das Radio die wichtigste Unterhaltung, die die Menschen zur Verfügung hatten.“



    Eugen Denize war pessimistisch hinischtlich einer Fortsetzung der Geschichte des Rumänischen Radios. Ein Geschichte von 1989 bis heute zu schreiben, ist schwieriger, denn die Unterlagen, anhand derer man die Geschichte interpretieren könnte, wurden wegen des gro‎ßen Informationsvolumens und des Wegfalls der Zensur nicht mehr archiviert.



    Die Revolution von 1989 hat eine beträchtliche Änderung für alle Rumänen bedeutet, aber vielleicht mehr für den Rundfunk. Bis 1989 befand sich der Rundfunk unter staatlichem Monopol, genauso während der Demokratie von 1928 bis 1938. Nach 1989 verschwindet dieses staatliche Monopol und man beginnt Frequenzen zu verkaufen. Es entsteht ein Wettbewerb, der immer härter wird. Das bedeutet für das öffentliche Radio eine gro‎ße Herausforderung, die eine Antwort erfordert. Ich denke, dass die Journalisten dort über Ressourcen verfügen, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Ich behaupte das, weil ich sehe, was in anderen europäischen Ländern wie Italien und Gro‎ßbritannien passiert, wo der Auftrag der öffentlichen Sender nicht etwa eingegrenzt sondern sogar erweitert wurde. In dieser Sendervielfalt hat das öffenliche Radio den gro‎ßen Vorteil der Tradition.“



    Radio România hat eine 85-jährige Geschichte und ist eine Presseanstalt, die Gleichgewicht und Qualität der journalistischen Beiträge aufweist. Es ist etwas, was wir 1989 zurück gewonnen haben, etwas, was wesentlich für eine demokratische Gesellschaft ist.



    Audiobeotrag hören: