Tag: Geschichte

  • „Reflector“: Mutige TV-Sendung nahm es mit kommunistischen Bonzen und Korruption auf

    „Reflector“: Mutige TV-Sendung nahm es mit kommunistischen Bonzen und Korruption auf

     

     

    Es ist eine Binsenwahrheit: In totalitären Gesellschaften ist die Presse gleichgeschaltet, und jeder weiß, dass er in staatlichen Medienprodukten mit Lügen konfrontiert wird und meistens nur Propaganda schlucken muss. So auch im kommunistischen Rumänien geschehen.

     

    Doch die Geschichte der Presse während der kommunistischen Jahre in Rumänien wies auch – für kurze Zeit – ein einigermaßen ehrenwertes Kapitel auf, in dem die Journalisten versuchten, ihre Berufsethik anzuwenden und die Stimme der Gesellschaft zu sein. Die Zeit zwischen 1966 und 1971 war die beste für die Presse unter dem kommunistischen Regime in Rumänien, und einige Medien-Produktionen waren beim Publikum besonders erfolgreich. So z.B. die Sendung „Reflector“ (zu deutsch in etwa: „Im Scheinwerferlicht“), die im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Darin wurden institutionelle Missstände und Missbräuche durch Politiker oder Leiter staatlicher Behörden vor Augen geführt.

     

    Die Sendung „Reflector“ („Im Scheinwerferlicht“) war ein Versuch, verantwortungsvollen Journalismus zu betreiben – allerdings setzte das kommunistische Regime dabei klare Grenzen. Die offizielle Ideologie der rumänischen kommunistischen Partei durfte nicht in Frage gestellt werden, ebenso wenig wie das Wesen der Staatsmacht und der sozialen und politischen Ordnung. Ein Tabu waren auch die Person des Führers Nicolae Ceaușescu, seine Familie und die Verwandten, die führenden Aktivisten der Partei, die Armee, der Repressionsapparat, bestehend aus der Miliz und der Securitate, sowie Mitarbeiter der Justiz und des staatlichen Finanz- und Bankensektors. Daher befasste sich die Sendung „Reflector“ meistens mit Missständen und Fehlleistungen in der sozialistischen Konsumwirtschaft.

     

    Die Sendung wurde beginnend mir 1967 ausgestrahlt und orientierte sich an ähnlichen Sendungen in der westlichen Presse. Die Öffnung des rumänischen Fernsehens gegenüber dem Westen ist den Journalisten Silviu Brucan und Tudor Vornicu zu verdanken. Der zu erst Genannte war damals Intendant des Senders und zuvor Botschafter des sozialistischen Rumänien in den USA und bei der UNO gewesen und war von den amerikanischen Medien besonders angetan. Ironie des Schicksals – oder rumänische Paradoxie – der Mann war in den 1950er Jahren einer der schlimmsten Hetzer in der kommunistischen Presse gewesen – und in den 1990ern wieder als Talkshow-Gast gefragt. Tudor Vornicu hingegen, Chefradakteur der Sendung „Reflector“, hatte als Korrespondent des Rumänischen Rundfunks in Frankreich Karriere gemacht und war wiederum mit den französischen Medien vertraut. Aus diesem fragwürdigen Mix sollte ein halbwegs gutes Medienprodukt entstehen. Und darüber weiß der Journalist Ion Bucheru zu berichten, damals Vizeintendant des rumänischen Fernsehens und Koordinator des Teams, das die Sendung machen durfte. In einem Interview mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte des rumänischen Rundfunks von 1997 erinnerte sich Bucheru, was den Erfolg der Sendung ausmachte.

     

    Ich war damals verantwortlich für die Sendung, die inzwischen zweimal wöchentlich ausgestrahlt wurde und 20 bis 25 Minuten dauerte. Die Sendung wurde bald zu einer sozialen Instanz. Die fünf Hauptakteure, die routinemäßig in der Sendung auftraten, führten sich wie Staatsanwälte auf und glaubten, einen sozialen Auftrag zu haben und ausüben zu müssen. Sie hatten einen direkten Draht zu den Menschen, sie wurden einfach von Bürgern angerufen, die keine andere Hoffnung mehr im Kampf mit der Bürokratie oder mit staatlichen Institutionen hatten.“

     

    Es war einfach ein schlechtes Omen, im Fernsehen vorgeführt zu werden, vor allem wenn es um skandalöse Fälle von Missbrauch, Inkompetenz oder Gleichgültigkeit in Umgang mit öffentlichen Geldern ging. Deshalb war selbst in den kleinsten Läden oder an Marktständen Panik angesagt, wenn das Kamera-Team von „Reflector“ („Im Scheinwerferlicht“)“ urplötzlich auftauchte. Ion Bucheru, der Chefredakteur von damals, erinnert sich weiter:

     

    Wir schlugen damals ziemlich über die Stränge: Wir beendeten die Sendung immer mit einem Standbild und einem Text. Das Bild zeigte ein schwarzes Auto, das in einer Abgas- oder Staubwolke davon düste, und der sarkastische Text lautete: »In diesem Auto verlässt Genosse Minister Soundso das Ministerium, wahrscheinlich in Eile, um an irgendeiner Sitzung teilzunehmen. Und er hatte es so eilig, davonzukommen, dass er nicht einmal die Zeit hatte, mit dem Reporter der Sendung zu sprechen.« Sie können sich vorstellen, was es für einen Wirbel veursachte, wenn ein Redakteur der Sendung den Leiter eines staatlichen Unternehmens oder einen stellvertretenden Minister anrief, um ihm nur mitzuteilen, dass das Journalisten-Team von »Reflector« bald vorbeikäme oder schon auf dem Gelände angekommen sei.“

     

    Doch dann kam der Moment Juli 1971, als der Diktator Nicolae Ceaușescu seine ominösen Thesen verkündete, mit denen eine 180-Grad-Wende eingeleitet wurde: vom relativ liberalen Kommunismus zum National-Kommunismus, in dem jede Kritik am System nicht mehr willkommen war. Es war im Grunde eine Rückkehr zur stalinistischen Epoche der 1950er Jahre, was eine große Bestürzung in den Ländern der freien Welt auslöste, die bis dahin die angebliche Distanzierung des rumänischen Führers von der Sowjetunion geschätzt und unterstützt hatten. Diese Rückentwicklung beeinflusste auch die Sendung „Reflector“ („Im Scheinwerferlicht“), die nach und nach an Schärfe verlor und uninteressant wurde, wie sich der damalige Chefredakteur Ion Bucheru erinnerte:

     

    Die sogenannten Juli-Thesen entsprangen Ceaușescus Geist, Kopf und Feder im Zuge eines Fernsehskandals. Es war der Moment, als Ceaușescu nach 1968 den Höhepunkt seiner Popularität und seines nationalen und internationalen Ansehens erreicht hatte. Es war eine Zeit, in der Rumänien international als ein kleines Weltwunder in dieser Ecke Europas galt. Es war eine Zeit, in der die Staatsoberhäupter Rumänien ihre Türen öffneten, selbst die konservativsten, selbst diejenigen, die es bis dahin abgelehnt hatten, Ceaușescu zu empfangen oder ihm die Ehre eines Staatsoberhauptes zu erweisen. Wenn man damals als rumänischer Journalist im Ausland unterwegs war – und ich habe das selbst erlebt –, wurde man nicht nur mit Sympathie, sondern mit einer Art von Brüderlichkeit betrachtet. Wir waren oft schlecht ausgestattet, ohne logistische Möglichkeiten unterwegs, und waren obendrein auch sehr schlecht bezahlt. Aber es gab eine solche Welle der Sympathie um uns herum, dass uns die ausländischen Kollegen beisprangen und uns vieles zur Verfügung stellten.“

     

    Mitte der 1980er Jahre, als das Fernsehprogramm nur noch zwei Stunden am Tag umfasste, wurde die Sendung „Reflector“ („Im Scheinwerferlicht“) eingestellt. Nach der Wende von 1989 gab es den Versuch, sie wiederzubeleben, doch sie konnte nie wieder an ihren vorherigen Erfolg anbinden.

  • Revolution von 1989: Wie nimmt die junge Generation die historischen Ereignisse wahr?

    Revolution von 1989: Wie nimmt die junge Generation die historischen Ereignisse wahr?

     

     

    Seit 1989 gedenken die Menschen in Rumänien im Dezember der antikommunistischen Revolution. Fast ein halbes Jahrhundert hatte ihnen das kommunistische Regime ihrer Rechte und Freiheiten und sogar ihrer menschlichen Würde beraubt. Im Unterschied zu anderen Ostblockstaaten wurde die Rückkehr zur Demokratie und zur Normalität im Dezember 1989 außerdem durch Blutvergießen erreicht.

    35 Jahre später lässt die emotionale Aufladung des Gedenkens nach, und die zeitliche Entfernung trägt zu einer zunehmend distanzierten Berichterstattung über die damaligen Ereignisse bei. Die neuen Generationen blicken auf den Dezember 1989 zwar mit der Neugierde für Ereignisse, die sich nicht hautnah erlebt haben. Doch besorgniserregend ist die Tatsache, dass viele junge Menschen heute nicht begreifen, was das totalitäre politische Regime für das Land und das Leben ihrer Eltern und Großeltern bedeutete.

     

    Die Historikerin und Schriftstellerin Alina Pavelescu entstammt der Generation, die die Revolution von 1989 erlebt und an ihr mitgewirkt hat. Sie hat ein Buch veröffentlicht, mit dem sie den Jugendlichen von heute vermitteln will, wie das Leben der Jugendlichen von damals war und wie es zur Revolution kam. Das Buch trägt den Titel „Die Revolution von 1989 – ein Nacherzählung für jene, die sie nicht erlebt haben“, und wir haben die Autorin gefragt, ob es eine Botschaft des Jahres 1989 für die Nachwelt gibt und ob es ihrer Generation gelungen ist, sie zu entziffern.

    Natürlich hätten wir das Vermächtnis des Jahres 1989 weitertragen müssen, um uns selbst zu finden und zu verstehen, was in den letzten 35 Jahren mit uns geschehen ist. Das ist uns bisher nicht gelungen, und wir können nur hoffen, dass wir von nun an weiser werden. Ich kann nur ein persönliches Zeugnis ablegen, und das ist die Bekundung eines Zeitzeugen, der auch 35 Jahre später noch eine große emotionale Belastung im Zusammenhang mit der Revolution verspürt. Dieser emotionale Ballast hindert uns daran, die Dinge klar zu sehen. Aber zumindest können wir unsere Geschichten so ehrlich erzählen, dass Menschen, die jünger sind als wir, heute begreifen, wie die Revolution von 1989 auch ihr Leben verändert hat. Und ich meine, dass sie ihr Leben zum Besseren verändert hat. Wenn meine Generation den Sinn der Ereignisse von 1989 nicht eruieren kann, schafft es vielleicht die junge Generation von heute, die Bedeutung dieser historischen Veränderung für ihr Leben zu begreifen.“

     

    Alina Pavelescu hatte das Gefühl, dass sie der heutigen und der kommenden Generation etwas über 1989 zu sagen hat. Ein Buch sei der geeignetste Weg gewesen, dies zu tun.

    Ich habe mir vor allem vorgenommen, junge Menschen zum kritischen Denken anzuregen. Mir ist klar, dass sie mit verschiedenen Geschichten und verschiedenen Versionen konfrontiert sind und sich wahrscheinlich fragen, wo die Wahrheit bei all den unterschiedlichen Darstellungen liegt. Deshalb habe ich im Buch zunächst alle Theorien und Hypothesen, die ich in den Diskursen über die Revolution identifiziert habe, mit ihren Pro- und Contra-Argumenten Revue passieren lassen. Aber ich gebe zu, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, den Lesern im Nachwort zu dieser Abhandlung ausdrücklich zu sagen, dass die Revolution von 1989 tatsächlich eine solche war, weil sie unser aller Leben radikal verändert hat. Wir verdanken ihr die Freiheit der letzten 35 Jahre, auch wenn wir damals nicht wirklich wussten, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollten, und wir stets das Gefühl hatten, dass sie uns jemand vor der Nase wegschnappt. Heute haben wir diese Freiheit immer noch, und das verdanken wir der Revolution von 1989 und den Menschen, die sich damals auf der Straße vor die Gewehrläufe gestellt und ihr Leben geopfert haben.“

     

    Doch wie ist Alina Pavelescu beim Schreiben ihres Buchs vorgegangen? War ihre Herangehensweise eher die einer Historikerin oder die subjektive Wahrnehmung der Schriftstellerin?

    Ein Historiker sollte eine kohärente und soweit wie möglich wahre Geschichte liefern, so nah wie möglich an der Schnittmenge der Wahrheit unterschiedlicher Ereignisse. Er muss nicht notwendigerweise Lektionen erteilen oder Interpretationen liefern, die über das persönlich Erlebte hinausgehen, auf das wir alle ein Recht haben. Aber ich fürchte, dass in Osteuropa und besonders in Rumänien, wo die Geschichte viel zu oft das Terrain politischer Kämpfe ist, die Historiker es nie wirklich schaffen werden, im Elfenbeinturm der abstrakten Geschichtsschreibung zu bleiben. Folglich denke ich, das Ehrlichste, was wir tun können, ist, zu versuchen, das Beste aus unserer Perspektive und aus der Perspektive des historischen Kontextes zu liefern. Ich glaube nicht, dass wir uns im Elfenbeinturm einschließen sollten, und ich glaube auch nicht, dass der Elfenbeinturm eine realistische Option ist. Gleichzeitig sollten wir aber auch nicht zulassen, dass Politiker unser Studienfach, nämlich die Geschichte, als Schlachtfeld für ihre ideologischen Grabenkämpfe missbrauchen.“

  • Geschichte der modernen rumänischen Zivilisation: 100 Jahre seit Herausgabe von Lovinescus Werk

    Geschichte der modernen rumänischen Zivilisation: 100 Jahre seit Herausgabe von Lovinescus Werk

    Eugen Lovinescu ist 1881 in Fălticeni, im Norden Rumäniens, geboren und 1943 in Bukarest gestorben. Er ist unter anderem für sein umfangreiches dreibändiges Werk „Geschichte der modernen rumänischen Zivilisation bekannt“. Das Buch wurde 1924-1925, vor genau 100 Jahren, herausgegeben. Darin wird Lovinescus Vision von kleinen Gesellschaften präsentiert, die dazu neigen, sich mit großen Gesellschaften zu synchronisieren. Der Autor, ein überzeugter Anhänger westlicher Werte, legt das Gesetz der Nachahmung dar und zeigt, wie rückständige Gesellschaften von fortgeschrittenen Gesellschaften beeinflusst werden

    Seit seinem Erscheinen hat Lovinescus Werk zunehmend an Bedeutung für die rumänische Gesellschaft gewonnen. In den vergangenen 100 Jahren wurde Lovinescus These vom Synchronismus sowohl angegriffen als auch verteidigt.

    Nach Ansicht von Ion Bogdan Lefter, Professor für rumänische Literatur an der Universität Bukarest, geht das Buch über eine Literaturgeschichte hinaus. Deshalb würde es jetzt die Anerkennung bekommen, die es verdient habe.

    Die Frage, die ich mir sicherlich gestellt habe, lautet: Warum dieses Buch? Und natürlich gibt es dazu eine Reihe von Antworten, die vielschichtig sind. Die erste Antwort ist die außerordentliche Bedeutung des Autors. Für mich ist Lovinescu der wichtigste rumänische Literaturkritiker überhaupt, ja sogar eine Schlüsselfigur der rumänischen Kultur seit 1900. Die zweite Ebene der Antwort ist vielleicht überzeugender, da sie keine Bewertung und möglicherweise auch keine Subjektivität impliziert. Sie hat mit dem Profil dieses Buches in Bezug auf sein Thema und auf die heutige rumänische Welt zu tun. Lovinescu war ein Literaturkritiker, seine multidisziplinäre Relevanz ist unbestreitbar.

    Ion Lefter ist der Meinung, dass der Text von Lovinescu eine Aktualisierung verdient. Es ist bekannt, dass jeder Text ein Produkt seiner Zeit ist und mit jedem vergangenen Jahr „altert“. Lefter argumentiert, dass Lovinescu mit den Augen des 21. Jahrhunderts gelesen werden kann.

     Der Synchronismus ist, war und bleibt eine Form der Globalisierung. Globalisierung ist eine Form der Synchronisierung. Das Überbrücken von Lücken, das Eintreten in den Wettbewerb, die Angleichung sind auch Mikroprozesse. Wenn wir über eine einzelne Nation sprechen, befinden wir uns aus planetarischer Sicht immer noch auf einer Mikroebene. Oder, wenn wir die große planetarische Skala betrachten, sind die Phänomene eigentlich gleichartig, mit vielen Feinabstimmungen, die wir natürlich hinzufügen müssen. Lovinescus kulturelle Überlegungen zur Geschichte der modernen rumänischen Zivilisation haben von daher vielleicht auch eine zeitgenössische und sogar natürliche Dimension. Ich sage das nicht, um Lovinescus Bild als Prophet der Globalisierung aufzupolieren.

     Wer sich für Moden und Trends interessiert schaut auch auf die Richtung, in die sich die menschliche Zivilisation bewegt. Da Kultur und Zivilisation nicht voneinander zu trennen sind, hören wir heute Meinungen darüber, die aus der Vergangenheit stammen und nach den Vorstellungen der Gegenwart neu bewertet werden. Ion Bogdan Lefter sagt, ausgehend von den Thesen Lovinescus, dass die Entwicklung der Menschheit eher als Ergebnis allmählicher Anhäufungen und kaum als Folge extremer und spontaner Impulse zu sehen ist.

     Ich bin fest von der Idee der evolutionären Abstufungen überzeugt, die in erster Linie Kontinuitäten voraussetzt. Die Kontinuitäten können langsamer oder schneller sein, die Rhythmen können Kontinuität und Bruch näher bringen. Sind sie so radikal unterschiedlich, wie wir sie oft formulieren? Oder sind sie Teil umfangreicher Prozesse der Entwicklung und Kontinuität, die auch Rückschläge und Brüche beinhalten? Auf jeden Fall würde ich viel vorsichtiger und seltener radikale Bewertungen verwenden.

    Autoren wie Eugen Lovinescu, die über die Grenzen ihrer Disziplin hinausgehen, sind eher selten. Ion Bogdan Lefter ist der Ansicht, dass die historischen Zeiten, durch die Gesellschaften gehen, über die Persönlichkeiten verfügen, die sie verstehen können.

    Lovinescu kommt sehr schnell zu der Erkenntnis, dass Literatur ohne einen historischen Charakter nicht verstanden werden kann und nicht existiert. Es gibt keine Geschichte der Literatur ohne den Hintergrund der Sozialgeschichte, der großen Geschichte. Das ist eigentlich eine Entwicklungsstufe derjenigen, die in der jeweiligen Epoche alle soziokulturellen Bereiche verstanden haben. Die öffentliche Debatte setzt eben zuallererst den Diskurs voraus. Das Verfassen von Texten, das expressive Schreiben sind frei verfügbar und können von Fachleuten in allen Bereichen genutzt werden. Aber natürlich trainieren Schriftsteller auch für den Diskurs, sie sind Profis der öffentlichen Vorträge.

     Vor hundert Jahren hat Eugen Lovinescu der rumänischen Kultur ein großes Werk vermacht. Es war sowohl ein Buch über die Identität der rumänischen Gesellschaft als auch ein Buch über ihren Werdegang.

  • Plädoyer für ein geschichtsbewusstes Europa

    Plädoyer für ein geschichtsbewusstes Europa

    Zum Auftakt betonte er den Stellenwert der Erinnerungskultur in beiden Ländern. “Gemeinsam gedenken wir heute der Opfer von Krieg, Gewalt und Unterdrückung in allen Nationen. Doch der heutige Volkstrauertag mahnt uns auch, die Herausforderungen und Bedrohungen unserer Zeit zu bedenken – vielleicht die beunruhigendsten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
    Grenzen, Ethnien, Kulturen treten in den Hintergrund, wenn wir uns an das Opfer derer erinnern, die sich in der Vergangenheit für unsere Freiheit, Rechte und Würde mit ihrem Leben eingesetzt haben. So erkennen wir an diesem Tag einmal mehr, wie viel wir als Europäer teilen und was wir gemeinsam in einem freien und demokratischen Europa aufbauen können.
    Wir müssen uns stets bewusst sein, dass Geschichtsvergessenheit zur Wiederholung der Fehler der Vergangenheit oder zur Fortsetzung von Ungerechtigkeit führt.
    Das Vergessen stellt eine zunehmende Gefahr dar, da die Generationen, die Krieg und Diktatur direkt erlebt haben, bald nicht mehr unter uns sein werden. Ich schätze deshalb das Engagement Deutschlands, jungen Menschen die Geschichte nahezubringen. Auch in Rumänien setzen wir uns dafür ein, dass die jungen Menschen in der Schule über die Fehler der Vergangenheit lernen und sich dieser bewusst sind, um sie nicht zu wiederholen. Und im Hinblick auf die Jugend halte ich es für symbolisch, dass der Volkstrauertag in diesem Jahr mit dem Internationalen Tag der Studenten, am 17. November, zusammenfällt.
    Dieses Jahr gedenken wir auch des 80. Jahrestags der Landung in der Normandie, und des 35. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer – beide Wendepunkte der europäischen Geschichte.
    1987, hatten die Arbeiterproteste in Brașov, Kronstadt in Rumänien, den ersten Massenaufstand gegen Ceaușescus Diktatur markiert und, obwohl dieser nach wenigen Tagen blutig niedergeschlagen wurde, war er einer der Katalysatoren der rumänischen Revolution von Dezember 1989.
    Durch den Mut der rumänischen Bürger, die damals gegen den Diktator Ceaușescu und das kommunistische Regime protestierten, und durch das Opfer vieler von ihnen, die diesen Mut mit ihrem Leben bezahlt haben, wurde das repressive Regime in Rumänien gestürzt.
    Rumänien ist seit 35 Jahren frei – eine Freiheit, die mit großem Leid, aber auch mit viel Hoffnung errungen wurde.
    Der Fall der Berliner Mauer ermutigte auch die Rumänen im Kampf für Freiheit und Demokratie. Die Beseitigung des Eisernen Vorhangs ermöglichte für Rumänien die Rückkehr in die große Familie der europäischen Demokratien”, so der rumänische Präsident.

    Die Gelegenheit nutzte Johannis auch zu einem Plädoyer für die EU, wobei er 35 jahre nach dem Fall der Berliner Mauer auch das Engagement Rumäniens für Freiheit und Demokratie hervorhob.

     

     

    “Nicht nur die intellektuelle Elite, sondern die gesamte rumänische Nation hat sich stets in natürlicher Weise den westlichen Werten zugewandt, die heute durch die Europäische Union und NATO repräsentiert werden.Die Europäische Union, dieses große Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg und Jahrhunderten von Konflikten, ist das Ergebnis der Versöhnung europäischer Nationen. Unsere demokratischen Werte und unser wirtschaftliches Modell wurden zu einer Inspirationsquelle sowohl für Nachbarn, als auch internationale Partner.Wir stellen jedoch fest, dass unser europäisches Projekt auch andere Reaktionen hervorgerufen hat, insbesondere in einigen undemokratischen Staaten. Die Furcht totalitärer Regime vor der Attraktivität europäischer Werte hat dazu geführt, dass unsere Union als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Kritiker der Europäischen Union sind die Feinde der Demokratie und Freiheit.Leider verbreiten sich die Propaganda- und Desinformationsmechanismen heute vermehrt, weil sich diktatorische Regime auf das Prinzip stützen, dass „eine Lüge, die oft genug erzählt wird, zur Wahrheit wird“.Wir sehen diese empörende Tatsache in der Aggression Russlands gegen Ukraine.
    Wir werden weiterhin an der Seite des ukrainischen Volkes stehen, das mutig und heldenhaft der vom Kreml angeordneten Invasion widersteht und der Macht und Brutalität des russischen Imperialismus trotzt. Die Unterstützung unserer Staaten und der internationalen Gemeinschaft ist entscheidend, um letztlich einen gerechten und dauerhaften Frieden zu gewährleisten, der im Einklang mit der UN-Charta und dem Völkerrecht steht. Rumänien hat frühzeitig vor den Risiken durch aggressive Diktaturen, wie die des russischen Regimes, gewarnt”, sagte der rumänische PKH im deutschen Bundestag in seiner Rede anlässlich des Volkstrauertags zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Diktatur.

  • Parteizeitung „Scânteia“: die Anfänge des Presseorgans der rumänischen Kommunisten

    Parteizeitung „Scânteia“: die Anfänge des Presseorgans der rumänischen Kommunisten

    Eine der stärksten Waffen der Propaganda der kommunistischen Regime war die Presse. Die Rede- und Pressefreiheit ist ein Recht, das im 18. Jahrhundert errungen und in Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 formell als allgemeines Recht angenommen wurde. Doch totalitäre kommunistische und faschistische Regime haben dieses Recht mit Füßen getreten und in ein Mittel zur Einschüchterung und Gleichschaltung verwandelt.

    In den kommunistischen Ostblockstaaten Mittel- und Osteuropas drehte sich die gesamte Presse um die Ideologie. Die kommunistischen Parteien gründeten zu diesem Zweck ihre eigenen Presseorgane, die das Wesen ihrer Ideologie zum Ausdruck brachten. In der Sowjetunion gab es seit 1912 die Zeitung „Prawda“ („Die Wahrheit“), und im kommunistischen Bulgarien erschien bis 1990 „Rabotnitschesko Delo“ („Taten der Arbeiter“). In der Tschechoslowakei gab es bis 1995 die Parteizeitung „Rudé Právo“ („Rote Gerechtigkeit“). In der Deutschen Demokratischen Republik erschien ab 1946 die das Blatt „Neues Deutschland“ als Zentralorgan der SED. Im ehemaligen Jugoslawien wurde „Borba“ („Der Kampf“) bis 2009 herausgegeben und erschien danach episodisch weiter. In Polen wurde „Trybuna Ludu“ („Die Volkstribüne“) von 1948 bis 1990 gelesen. In Ungarn erschien ab 1942 „Szabad Nép“ („Freies Volk“), das 1956 in „Népszabadság“ („Volksfreiheit“) umgetauft wurde. Und schließlich in Rumänien wandte sich die Kommunistische Partei mit „Scânteia“ („Der Funke“) an die Gesellschaft.

    Gegründet 1931, als die Rumänische Kommunistische Partei (PCR) eine verbotene Partei war und vom rumänischen Staat radikal verfolgt wurde, weil sie für die Zerstückelung des Landes eintrat, erschien die Parteizeitung „Scânteia“ bis 1940 nur sporadisch. Ihr Name war eine Übersetzung des russischen Wortes „Iskra“ („Funke“) und eine Anlehnung an die gleichnamige Exilzeitung Lenins, die zwischen 1900 und 1905 erschienen war. Legal erschien „Scânteia“ erstmals am 21. September 1944, nachdem die Rote Armee am 30. August 1944 Bukarest besetzt hatte und bis 1947 die kommunistische Herrschaft in ganz Rumänien durchsetzen sollte.

     

    Der 1920 geborene Kunstkritiker Radu Bogdan war ein kommunistischer Sympathisant und hatte in den Kriegsjahren sporadische Kontakte zu Mitgliedern der Kommunistischen Partei gehabt. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Sowjets wurde er politisch aktiv. 1995 erinnerte er sich im Interview mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte, wie er an der Neugründung der Parteizeitung mitgewirkt hatte.

    Am Anfang waren es fünf Personen, die von der Partei beauftragt wurden, die erste Ausgabe vorzubereiten. Der Komponist [und überzeugte Kommunist] Matei Socor stand an der Spitze des Teams, zu dem noch Pavel Chirtoacă, der Ingenieur Solomon, Radu Mănescu und Iosif Ardelean gehörten, der später bei der Zensurbehörde arbeiten sollte. Es begann also mit diesen fünf, wobei der Ingenieur Solomon administrative Aufgaben hatte. Damals schwebte mir vor, als Journalist tätig zu werden, aber ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Als ich hörte, dass Radu Mănescu eine Zeitung herausgeben sollte, ging ich zu ihm, stellte mich vor und fragte, ob ich mitmachen könne, weil ich Journalismus machen wollte. So wurde ich eingeladen, mich hinzusetzen und ein Volontariat zu machen. Es war die so genannte romantische Zeit, ich steckte voller Ideale! Am Anfang habe ich Korrekturlesen gemacht. Dort hatte ich Mirel Ilieșiu als Kollegen, einen Filmregisseur. Ich habe also schon mit der Arbeit an der ersten Ausgabe der Zeitung »Scânteia« einen Fuß in die Redaktion gesetzt.“

     

    In der Zeitung sprachen sich idealistische kommunistische Intellektuelle wie auch neuere Opportunisten mit extremer Gewalt gegen das bürgerliche Rumänien und die demokratische Gesellschaftsordnung aus. Einer der schärfsten Propagandisten war damals Silviu Brucan, der die gesamte Geschichte des Regimes erlebte und auch nach 1989 noch eine Zeit lang als Publizist tätig war. Radu Bogdan erinnerte sich an die „wachsame“ Tätigkeit der Presse in jenen Jahren, insbesondere die der Parteizeitung „Scânteia“, die vom marxistischen Soziologen Miron Constantinescu geleitet wurde.

    Matei Socor war nur einen Tag lang Leiter der »Scânteia«. Danach wurde er zum Rundfunk versetzt und wurde dessen Generaldirektor. Ein paar Tage nach den ersten Ausgaben der Parteizeitung bekamen wir Miron Constantinescu als Chef, er war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Wir haben in der Redaktion oft nachts gearbeitet. Die ersten Tage schlief ich mit ihm auf der gleichen Matratze auf dem Boden, es gab nämlich keine Betten. Das erste Redaktionsbüro von »Scânteia« befand sich im Gebäude der eingestellten [rechtsgerichteten] Zeitung »Curentul«, die von Pamfil Șeicaru geleitet worden war. Zu dieser Zeit war ich auch der Leibwächter von Miron Constantinescu. Aber das war mehr Schein als Sein, weil ich nicht bewaffnet war. Doch Constantinescu ging jeden Tag zum Allgemeinen Gewerkschaftsbund und ihm war es etwas mulmig zumute, allein auf der Straße unterwegs zu sein, also nahm er mich immer mit, um ihn zu begleiten. Ich war damals ziemlich gut gebaut und ein hochgewachsener Mann. Doch wir wurden nie angegriffen. Aber ein paar Monate lang war ich wie sein Schatten.“

     

    In den folgenden 40 Jahren war „Scânteia“ – ähnlich wie die Presseorgane der Schwesterparteien in den kommunistischen Ostblockstaaten – ein reines Propagandabüro, das die materiellen Entbehrungen und die brutale Verletzung der Menschenrechte verschleierte.

  • Der Alltag von gestern im Mittelpunkt

    Der Alltag von gestern im Mittelpunkt

    Die Ausstellung wird bis September dieses Jahres im Museum zu sehen sein. Sie stellt dem geschichtsinteressierten Publikum eine Reihe neuer Museumsobjekte vor, die in den letzten rund 15 Jahren in den Fundus des Museums aufgenommen worden sind. Der Direktor des Nationalen Kunstmuseums Rumäniens, Ernest Oberländer-Târnoveanu, sagte anlässlich der Eröffnung, dass dieser Fundus inzwischen ganz ansehnlich ist: „Rumänien ist kein Land, das sehr reich an erfassten Objekten ist, und der Fundus ist keinswegs endlos und unerschöpflich. Deshalb ist es die Hauptaufgabe von Museumseinrichtungen, dieses Erbe zu sammeln, zu schützen und zu präsentieren. In der Tat leben Museen durch ihr Erbe, durch ihre Sammlungen und durch die Menschen, die an ihnen arbeiten und sie bewachen, sie erforschen und aufwerten. Museen sind keine toten Orte, sie sind keine Lagerhäuser, sie sind sehr dynamische Institutionen. Und alle Zahlen berichten, wie dynamisch das Nationale Geschichtsmuseum Rumäniens ist. In den 52 Jahren seines Bestehens ist unsere Sammlung von 50.000 Stücken auf über 18 Millionen Stücke angewachsen, davon sind allerdings 16 Millionen Briefmarken. Aber in den letzten zehn Jahren ist die Sammlung um über 100 Tausend Stücke gewachsen. Dabei handelt es sich um Stücke, die manchmal von einer Seltenheit und Schönheit sind, von der wir uns als Fachleute nie hätten vorstellen können, dass wir sie hier ausstellen können. Andere stehen im Zusammenhang mit dem Leben und der Arbeit großer Persönlichkeiten. Unsere Bemühungen zielen jedoch darauf ab, das tägliche Leben der rumänischen Gesellschaft in den letzten 200 Jahren zu veranschaulichen. Denn, wie ich zu sagen pflegte, ist es einfacher, das Alltagsleben in der Jungsteinzeit zu rekonstruieren als das unserer Urgroßeltern, weil die Museen nicht daran gewöhnt sind, Objekte zu sammeln, die mit der mehr oder weniger nahen Gegenwart zu tun haben.“

    Der stellvertretende Direktor des Geschichtsmuseum, Cornel Constantin Ilie, ging bei der Eröffnung der Ausstellung auf das Konzept und die Motivation ein, die dahinter steckt: „Es ist in der Tat eine wichtige Ausstellung, weil sie der Öffentlichkeit ein Erbe vorstellt, das größtenteils nicht ausgestellt wurde, ein Erbe, das von einem Museum stammt und diese Bemühungen hervorhebt, die nicht nur von unserem Museum gemacht werden. Etwas, das über das hinausgeht, was die Öffentlichkeit oder die Allgemeinheit vielleicht über das Museum denkt. Normalerweise verbinden die Menschen die Idee eines Museums mit der Idee einer Ausstellung. Die Dinge sind aber viel komplexer, und diese Ausstellung will genau das zeigen. Sie führt uns ein sehr wertvolles Erbe vor Augen, aber macht uns auch darauf aufmerksam, dass manche Menschen glauben, dass einige Gegenstände, die mit ihrer Familiegeschichte zu tun haben, besser in einem Museum aufgehoben wären. Unsere Spenderliste ist sehr großzügig und dieser Akt des „Schenkens“ sollte in der rumänischen Gesellschaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. In der Geschichte geht es nicht nur um Schlachten, nicht nur um Politiker, nicht nur um große Persönlichkeiten“.

    Was bedeutet denn Geschichte für einen Historiker und Museographen wie Cornel Ilie, und was bedeuten private Spenden im Museumsbereich? 
„Geschichte bezieht sich auch auf das alltägliche Leben, sie bezieht sich auf Kunst, auf Kultur, auf Sport, auf alles. Das ‘Gestern’ ist eigentlich Geschichte. Dieser Tatsache sollten wir bewusst sein. Wir interessieren uns nicht wirklich für das ‘Gestern’. Wir erinnern uns lange Zeit später an das Gestern und stellen fest, dass wir nicht klug genug waren, das Gestern zu dokumentieren. Wir versuchen, das auch zu tun. … Schenkungen sind in erster Linie ein Akt der Großzügigkeit, der als solcher behandelt und als Beispiel genommen werden sollte. … “

    Wie die Ausstellung im MNIR aussieht und welche Art von Objekten sie umfasst, erläutert wiederum Cornel Ilie:„Es ist eine Ausstellung, in der viele wahrscheinlich mit Überraschung Objekte von großem Wert entdecken werden, die geschenkt worden sind. Es gibt eine Menge Dinge, sehr wichtige Erwerbungen. Ich werde nur die jüngste erwähnen – ein Pokal. Ein absolutes Unikat. Es ist der Pokal der deutschen Bergarbeiterzunft im Burzenland und das einzige Objekt, das von ihrer Anwesenheit dort zeugt. Es ist nicht nur ein besonderes Kunstwerk. Dann gibt es noch Objekte, die durch die Bemühungen der rumänischen Behörden zurückgebracht wurden, zu denen auch unsere Kollegen vom Nationalen Historischen Museum Rumäniens beigetragen haben. Und natürlich sind da die vielen archäologischen Entdeckungen, die unsere Kollegen Jahr für Jahr machen.“

  • Kamele im rumänischen Raum: bereits in der Antike als Nutztiere verbreitet

    Kamele im rumänischen Raum: bereits in der Antike als Nutztiere verbreitet

     

     

    Die Geschichte der Menschheit und die Entwicklung von Gemeinschaften und Individuen können auch durch die Tiere erforscht werden, die sie in unterschiedlichen Zeiten als Nutz- oder Haustiere begleitet haben. Archäologen, die für uns heute die erstaunlichsten Objekte aus dem Boden graben, bringen auch die Überreste von Haustieren ans Tageslicht. Die Archäozoologie ist die Disziplin, die sich mit den Beziehungen zwischen dem historischen Menschen und der Tierwelt befasst, d. h. mit der Domestizierung, der Ernährung des Menschen, der Tierhaltung, den Bestattungsriten usw. Die Archäozoologie unterscheidet sich von der Paläontologie, die sich mit der Entwicklung von Tieren und Menschen befasst, ohne sich um ihre möglichen Beziehungen zu kümmern, und von der Paläozoologie, die ausgestorbene Tiere erforscht. Dank der Archäozoologie erfahren wir, dass das Kamel, ein typisches Säugetier der tropischen und Wüstenregionen Afrikas, Asiens und Australiens, einen Platz auch in der rumänischen Geschichte hat.

    Das Kamel ist ein großes, wiederkäuendes, pflanzenfressendes Säugetier, das auch in Rumänien in drei Varianten vorkommt: das Dromedar oder einhöckrige Kamel, das Trampeltier oder zweihöckrige Kamel und Hybriden der beiden, die einen großen und einen kleinen Höcker haben. Das Kamel, das auch als „Wüstenschiff“ bezeichnet wird, wurde als Transporttier eingesetzt, da es mit nur wenigen Wasser- und Nahrungsvorräten weite Strecken zurücklegen kann. Das Kamel, das vor etwa 5 000 Jahren domestiziert wurde, liefert Fleisch, Milch und Wolle und kann bei Nahrungsmangel auch verzehrt werden.

    Adrian Bălășescu hat in Biologie und Geschichte promoviert und ist Archäozoologe am „Vasile Pârvan“-Institut für Archäologie der Rumänischen Akademie. Er erforscht Kamelreste, die an archäologischen Stätten in Rumänien gefunden wurden, und hat eine Chronologie der Funde vorgelegt. Das älteste Kamel in Rumänien stammt aus dem 2. bis 4. Jahrhundert und wurde in der Dobrudscha, nahe der Festung Ibida im Landkreis Tulcea entdeckt.

    Vor 60 Jahren wurden die ersten Kamelreste ausgegraben, die in Dinogetia bei Garvăn im Kreis Tulcea entdeckt wurden. Damals gab es dort eine systematische archäologische Erforschung der byzantinischen Epoche aus dem 9. bis 12. Jahrhundert. Es wurde ein Zehenglied der Art camelus bactrianus entdeckt, also ein Kamel mit zwei Höckern. Mehr als 40 Jahre später, im Jahr 2007, wurden weitere Überreste in Noviodunum, dem heutigen Isaccea, ebenfalls im Kreis Tulcea, am Donauufer entdeckt. Diese Überreste stammen aus dem 11. Jahrhundert.“

     

    2007 wurden auch in Agighiol, ebenfalls in der Dobrudscha, weitere wichtige Funde gemacht. Es handelt sich um sechs erwachsene Kamele, die anhand ihrer Kiefer identifiziert werden konnten, deren Knochen keine Anzeichen menschlicher Eingriffe und keine Spuren von Raubtierzähnen aufweisen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sie schnell begraben wurden, wie der Forscher Adrian Bălășescu erläutert.

    Wir haben uns gefragt, wie die Knochen dieser Tiere in den Boden gekommen sind? Wir haben nicht viele Informationen vom Ausgrabungsort, und daher ist diese Frage schwer zu beantworten. Ich habe die Theorie, dass das Fehlen von Schnitt- und Zerlegungsspuren darauf hindeuten könnte, dass diese Tiere innerhalb kurzer Zeit an einer Krankheit starben und schnell begraben wurden, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Jüngste paläogenetische und mikrobiologische Studien belegen, dass Kamele als Überträger der Pest in Frage kommen. Die großen Epidemien kamen aus Asien, und neben Mäusen und Ratten als Träger des Pesterregers scheinen auch Kamele eine sehr wichtige Rolle gespielt zu haben. Dieses Bakterium, das die Pest verursacht, wurde sogar bei den von mir untersuchten Überresten im Zahnstein gefunden.“

     

    Weitere Kamelspuren wurden in der westrumänischen Stadt Timișoara (Temeswar) gefunden. Die Temeswarer Festung wurde 1552 von den Türken erobert und bis 1716 von ihnen beherrscht. Hier handelt es sich um zwei Unterkiefer, die bei Ausgrabungen im Stadtzentrum gefunden wurden. Doch Kamele gab es in Mittel- und Osteuropa schon lange vor der Ankunft der Osmanen, sagt weiter Adrian Bălășescu.

    In Mittel- und Südosteuropa sind Kamele seit der Römerzeit bekannt. Ihr Vorkommen dürfte vor allem auf die Ausdehnung des Römischen Reiches und die Verlegung von Militäreinheiten aus den Provinzen des Nahen Ostens oder Afrikas zurückzuführen sein, wo diese Tierart häufig anzutreffen war. So wurden osteologische Beweise in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn, Serbien und Bulgarien gefunden. Für das frühe Mittelalter sind die Funde in Dinogetia und Noviodunum (9.-12. Jahrhundert) belegt, wo diese Tiere aufgrund des römisch-byzantinischen Einflusses in der Region vorkommen.“

     

    Die Anwesenheit der Osmanen in Mitteleuropa beginnend mit der zweiten Hälfte des 16. Jh. und insbesondere ab dem 17. Jh. hat auch eine Wiederbelebung des Kamelhandels bewirkt, führt zum Schluss unseres Geschichtsmagazins der Archäologe Adrian Bălășescu aus.

    Mit dem Vordringen der Türken nach Europa kehrte auch diese Tierart zurück. Das ist insbesondere in Ungarn für die Zeit vom 15. bis zum 17. Jh. relativ gut dokumentiert. Die Anwesenheit dieser Tiere auf rumänischem Gebiet ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie als Transporttiere für militärische und zivile Zwecke verwendet wurden. Wahrscheinlich wurden sie in Zeiten des Nahrungsmangels auch verzehrt. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es in der türkisch besetzten Region Banat Gasthäuser, in denen Kamelfleisch serviert wurde. Die Anwesenheit dieser Tiere in Rumänien ist bis ins 20. Jahrhundert bezeugt. Es gibt ein Fotoarchiv eines Artillerieregiments aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in der Dobrudscha, wo zu sehen ist, dass die Kanonen mit Kamelen befördert wurden.“

  • Dokumentarfilm schildert die generationsübergreifende Suche nach Gerechtigkeit

    Dokumentarfilm schildert die generationsübergreifende Suche nach Gerechtigkeit

    Tofan, der zwei Jahrzehnte bei der rumänischen Redaktion von Radio Free Europe war, spricht von einer Doppelstory:

    “Dieser Titel, Der Fall des Ingenieurs Ursu, erzählt zwei Geschichten. Es sind ja zwei Ingenieure namens Ursu, Vater und Sohn. Sie stehen symbolartig durch Gheorghe Ursu für die Geschichte Rumäniens unter dem Kommunismus in den 80er Jahren und durch Andrei Ursu für das Rumänien von heute, für seinen 30-jährigen Kampf vor den Gerichten, um Gerechtigkeit für seinen Vater zu erlangen. Die zwei Geschichten beginnen beim Erdbeben von 1977. Wir zeigen dem kommunistischen Rumänien eine rote Karte und der Gerechtigkeit im demokratischen Rumänien die andere. Leider ist die zweite Geschichte, die von Andrei Ursu, nicht viel ermutigender als die von Gheorghe Ursu. 35 Jahre nach der Revolution warten wir immer noch auf ein korrektes Urteil im Fall des Todes des Dissidenten Gheorghe Ursu, das nicht nur aus juristischer Sicht, sondern auch aus historischer Sicht korrekt ist. Gheorghe und Andrei Ursu sind außerordentlich starke Persönlichkeiten mit einer echten Vorbildfunktion in einer ansonsten verkehrten Gesellschaft. Gheorghe Ursu wurde von der Miliz und der ehemaligen Securitate umgebracht, weil er sich weigerte, Kompromisse einzugehen, das wissen wir aus den Securitate-Akten. Er lehnte es klar ab, gegen seine Freunde auszusagen und war dabei so deutlich, dass er mit Fußtritten umgebracht wurde. Er ist ein Vorbild an Ehre und Aufrichtigkeit, weil er nicht eine Sekunde lang von seinen Prinzipien abgewichen ist. Und sein Sohn ist ein Mann, der tatsächlich sein Leben für ein Ideal opfert. Andrei Ursu hat zweimal sein Leben aufs Spiel gesetzt, indem er für seine Ideen in den Hungerstreik getreten ist und seine Ideen für wichtiger hielt als sein Leben. Darin liegt der eigentliche Wert des Films: in der Kraft dieser beiden Vorbilder”.

    Die erste Vorführung des Dokumentarfilms fand 2023 statt, nur wenige Tage vor der Verkündung des endgültigen Urteils durch den Obersten Gerichtshof. Trotz der akribisch aufgebauten Anklage wurden die beiden Angeklagten aus den Reihen der ehemaligen Securitate schließlich freigesprochen, und der Film bleibt die einzige Form der Wiedergutmachung und der Anerkennung im Fall des Dissidenten Gheorghe Ursu, glaubt Ko-Regisseur Tofan:

    “Ein großer Teil des Films schildert den Kampf von Andrei Ursu um Gerechtigkeit. Die ganze Chronologie der Probleme und Hindernisse, auf die er seit 1990 gestoßen ist, in verschiedenen Formen: Aufschübe, Ablehnungen, Verjährungen. Einer der beiden Angeklagten, Vasile Hodiș, der damals als Securitate-Ermittler den Tod von Gheorghe Ursu mitverschuldete, war nach 1990 lange Jahre Offizier im postkommunistischen Geheimdienst, blieb also im System, das sich immer gegen Andrej Ursu gestellt hatte. Andrei Ursu trat aus Verzweiflung zwei Mal in den Hungerstreik, ein erstes Mal in 2000. Er gewann beide Male, weil die Behörden erkannten, dass er es ernst meinte und bereit war, für seine Überzeugungen zu sterben. Und dann gaben sie nach. So wurde der Fall im Jahr 2000 an den Staatsanwalt Dan Voinea übergeben, der die Ermittlungen fortsetzte. Der zweite Hungerstreik von Andrei Ursu fand im Oktober 2014 statt, als er sich erneut in einer völligen Pattsituation befand. Auch damals, im Herbst vor den Wahlen, gaben die Behörden wieder nach. Das war eigentlich das große Einlenken, als alles, was Andrei Ursu verweigert worden war, plötzlich akzeptiert wurde. Erst dann wurde auch die Untersuchung gegen die beiden ehemaligen Securitet-Offiziere Marin Pârvulescu und Vasile Hodiș zugelassen. Bis 2014 hat sich das System einfach geweigert, Ermittlungen gegen ehemalige Securitate-Offiziere zuzulassen.”

    Der Dokumentarfilm von Liviu Tofan und Serban Georgescu ist eine Koproduktion von Kolectiv Film, der Stiftung “Gheorghe Ursu”, Victoria Film, Follow Art Association und der Rumänischen Fernsehgesellschaft und wurde auf vielen Festivals und in vielen Kinos gezeigt.

  • Borja Mozo Martín: „Osteuropa ermöglicht Neuentdeckung der gesamteuropäischen Identität“

    Borja Mozo Martín: „Osteuropa ermöglicht Neuentdeckung der gesamteuropäischen Identität“

     

     

    Borja Mozo Martín ist literarischer Übersetzer und Kulturredakteur. Der gebürtige Spanier aus Madrid lebt und arbeitet seit 2016 in Rumänien. Er übersetzt Werke der rumänischen und französischen Literatur ins Spanische. Seine Ausbildung erfuhr er an der Complutense Universität in der spanischen Hauptstadt, wo er zunächst französische Literatur und Journalistik studierte. Danach belegte er ein Masterstudium in Literaturwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, was ihm danach eine internationale Laufbahn ermöglichte – in den letzten 10 Jahren hat er Spanische Sprache und Kultur an unterschiedlichen Hochschulen in Frankreich und Rumänien sowie am spanischen Kulturinstitut „Cervantes“ in Bukarest unterrichtet.

    Seine literarischen Vorlieben gelten der Moderne und der zeitgenössischen Literatur. Als Übersetzer hat er bislang vier rumänische Romane ins Spanische übertragen – zwei Klassiker der Nachkriegsmoderne und zwei zeitgenössische Romane, darunter den Roman „Und man hörte die Zikaden“ unserer Kollegin Corina Sabău von der Feature-Redaktion. Aktuell arbeitet er an der Übersetzung des Romans „Das Mädchen, das Gott spielen wollte“ von Dan Lungu.

     

    Zunächst fragten wir Borja Mozo Martín, wie er sich der rumänischen Sprache und später der rumänischen Literatur genähert hat.

     

    Mich hat zunächst die rumänische Literatur interessiert, und selbstverständlich muss man auch die Sprache lernen, um einen unmittelbaren Zugang zur Literatur zu haben. Das Interesse für die Literatur hat also auch mein Interesse für die Sprache erweckt. Es war also eine doppelte Entdeckungsreise für mich. Zuvor hatte ich nur durch Übersetzungen Zugang zur rumänischen Literatur gehabt, die großen rumänischen Klassiker waren schon ins Spanische übersetzt und sie wurden an der Uni in Spanien auch gelehrt, doch hier in Rumänien sind sie eher Lehrstoff an Gymnasien. Doch die bekanntesten Werke der Klassik waren fast allesamt beginnend mit den 1970ern bis Ende der 1990er Jahre übersetzt worden. Lange Zeit gab es nur wenige Übersetzer aus dem Rumänischen; umso größer ist ihr Verdienst um die Förderung der rumänischen Literatur im spanischen Kulturraum.

    Ich hatte schon als Teenager ein leidenschaftliches Interesse an der französischen Literatur und später auf der Uni lernte ich ein für mich seltsames Phänomen kennen – die rumänische Exil-Literatur in Paris, die eine sonderbare Rolle im französischen Kulturbetrieb der 1970er–80er Jahre spielte. Und so wollte ich herausfinden, wie rumänische Schriftsteller und Journalisten wie Monica Lovinescu, Dumitru Țepeneag oder Mircea Eliade und andere große Namen, die auch nur zeitweilig in Paris lebten, es schafften, nicht nur ihr eigenes Werk voranzubringen, sondern auch die französische Kultur jener Epoche zu prägen. Und so entfaltete sich mein Interesse für die rumänische Literatur, selbst wenn das heute anekdotisch klingen mag. Ich war neugierig, zu erfahren, wer diese Menschen gewesen sind, wie ihr Leben in der rumänischen Exil-Gemeinschaft war und wie es ihnen gelang, ihre eigene Stimme im Kulturbetrieb Frankreichs hörbar zu machen.“

     

    Doch was hat Borja Mozo Martín dazu bewogen, seine wissenschaftliche Karriere und übersetzerische Tätigkeit nach Rumänien zu verlegen?

     

    Mein Interesse für die rumänische Literatur eröffnete mir neue Perspektiven – durch Literatur kann man nicht nur ästhetische Erlebnisse haben, sondern eine gesamte Kultur kennenlernen. Und bald musste ich feststellen, dass Rumänien – trotz der kulturellen Nähe zu Spanien und Frankreich – kaum bekannt in Westeuropa ist. So dass die Übersiedlung nach Rumänien ein natürlicher Schritt für mich war. Und ich konnte von einem akademischen Austauschprogramm profitieren, das vom spanischen Außenministerium in Zusammenarbeit mit dem rumänischen Bildungsministerium angeboten wurde. Hochschulprofessoren und Gymnasiallehrer konnten dadurch für mehrere Jahre nach Rumänien kommen und unterrichten. Und ich hatte das Glück, ein Angebot für einen Aufenthalt in Bukarest zu bekommen. 2016 kam ich also nach Bukarest mit der Überzeugung, dass es eine einmalige Chance ist, für eine unbestimmte Zeit in einem Land zu leben, von dem man von Anfang an fasziniert war. Es war folglich eine gelebte Faszination, die mir die Integration auch erleichtert und angenehm gemacht hat.“

     

    Stichwort Faszination – was hat den spanischen Philologen an Rumänien so fasziniert?

     

    Ich glaube, die meisten Westeuropäer empfinden eine gewisse Faszination für Osteuropa. Vielleicht nicht alle, eher meine Generation. Ich bin in den 1980ern geboren, und wir hatten damals viel darüber gehört oder gelesen, was in Osteuropa damals passierte, doch hatten wir keine Möglichkeit, die damaligen Umwälzungen in diesem Teil Europas hautnah mitzuerleben. Und so habe ich schon in sehr jungen Jahren aus Erzählungen, Filmen, Büchern eine Faszination für diese Welt entwickelt, die es so wie damals zwar nicht mehr gibt, aber immer noch präsent ist, trotz der europäischen Integration.

    Doch wenn man als Westeuropäer nach Rumänien oder generell nach Osteuropa kommt, entdeckt man eine leicht unterschiedliche Welt, die einen interessanten Dialog nicht allein mit der fremden Kultur, sondern auch mit sich selbst ermöglicht. Denn trotz aller Unterschiede aus der versunkenen Vergangenheit teilen wir als Europäer eine gemeinsame Geschichte und Realität. Die Übersiedlung nach Rumänien war für mich nicht nur eine Raum- und Zeitreise, sondern auch eine Gelegenheit, meine Identität als Europäer neu zu entdecken.“

     

    Zum Schluss fragten wir den spanischen Übersetzer und Kulturredakteur Borja Mozo Martín, ob ihm etwas am Leben in Rumänien missfällt oder zumindest unangenehm vorkommt.

     

    Es fällt mir manchmal schwer, mich mit diesem Gefühl anzufreunden, dass die Menschen in Rumänien weniger Gemeinsinn an den Tag legen, als ich es aus Ländern in Westeuropa kenne. Hier ist der Individualismus sehr stark ausgeprägt. Ich verstehe die historischen Wurzeln dieser Einstellung und will das gar nicht kritisieren, doch ist es für mich als Westeuropäer manchmal befremdlich, zu beobachten, welch niedrigen Stellenwert das Gemeinwohl in der rumänischen Gesellschaft hat. Ich bin im Westen Europas aufgewachsen, dort ist es eher umgekehrt – die Gemeinnützigkeit spielt eine große Rolle. Dieser Mentalitätsunterschied überrascht mich auch heute noch immer wieder.“

  • Sklaverei in der Antike: Griechische Stadt-Staaten am Pontus Euxinus

    Sklaverei in der Antike: Griechische Stadt-Staaten am Pontus Euxinus





    Sklaverei ist in der heutigen Welt nicht mehr hinnehmbar. Sie gilt als eine der schlimmsten Formen der Verletzung der Menschenwürde und ist ein Verbrechen, das sowohl völkerrechtlich als auch nach nationalem Recht strafbar ist. In der Vergangenheit war die Sklaverei jedoch nicht immer mit einem unwürdigen Status verbunden, weil das Menschenbild damals ein anderes war als heute. Sicherlich kann ein Mensch ohne Freiheit nicht als glücklich bezeichnet werden, doch der Sklave wurde in der Vergangenheit nicht immer als unglücklicher, ausgebeuteter Mensch wahrgenommen, der nach dem Gutdünken seines Besitzers lebte.



    Sklaverei ist in allen historischen Epochen und in allen von Menschen bewohnten Erdteilen bezeugt, und im heutigen rumänischen Raum gibt es Anhaltspunkte für ihre Präsenz. Die Ufer des Pontus Euxinus, wie man das Schwarze Meer in der Antike bezeichnete, wurden erstmals von den Griechen im 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. besiedelt. Dabei kamen sie mit anderen Völkern in Kontakt, die sie als Barbaren“ bezeichneten und mit denen sie wirtschaftliche Beziehungen eingingen und mal friedlich zusammenlebten, mal in kriegerische Auseinandersetzungen gerieten. Eine dieser Bevölkerungsgruppen waren die Geten, möglicherweise ein Stamm der Daker, die als Vorfahren der Rumänen gelten und am Westufer des Schwarzen Meeres lebten. Zum Wirtschaftsgeflecht zwischen den Griechen und den Eingeborenen gehörte auch die Sklaverei, d. h. die Arbeit in der Landwirtschaft, im Bergbau, im Handwerk, im Bauwesen und bei öffentlichen Arbeiten in den Städten.



    Archäologen haben sowohl nach materiellen als auch nach schriftlichen Beweisen gesucht, um ihre Hypothesen über die Existenz von Sklaverei am Pontnus Euxinus zu untermauern. Einer von ihnen ist Dragoș Hălmagi, Forscher am Vasile-Pârvan-Institut für Archäologie der Rumänischen Akademie, der sich auf beide Arten von Quellen konzentriert hat. Hălmagi ist der Ansicht, dass der Begriff abhängige Bevölkerung“ besser geeignet als Sklaverei“ ist, um die sozialökonomischen Beziehungen der Griechen zur einheimischen Bevölkerung zu beschreiben.



    In ihren Stadt-Staaten am Schwarzen Meer arbeiteten die Griechen nicht mit Sklaven, obwohl der Sklavenhandel am Pontus Euxinus, in Thrakien und sogar Skythien sowohl aus literarischen als auch epigraphischen Quellen (also antiken Inschriften) bekannt ist. Da es keine direkten Quellen gibt, die Sklavenarbeit am Pontus Euxinus belegen, wurde die Arbeit hier von abhängigen Bevölkerungsgruppen geleistet. Die Frage der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, einem sehr wichtigen Wirtschaftszweig der Antike, wird in einigen Quellen erörtert, weniger jedoch die der Haussklaven oder der Sklaven mit anderen Berufen. Ein Gedanke, der von griechischen Autoren wie Platon und Aristoteles geäu‎ßert wird, besagt, dass es im Allgemeinen vorteilhaft war, Sklaven mit verschiedenen Muttersprachen einzusetzen, um die Gefahr einer Rebellion zu vermeiden. Da die Griechen von den Geten im Westen umgeben waren, konnten sie keine Sklaven aus deren Reihen nehmen. Die Gefahr eines Aufstandes oder einer kriegerischen Auseinandersetzung wäre zu gro‎ß gewesen, weshalb sie es vorzogen, auf diese Weise mit ihnen zu arbeiten. Viele Inschriften berichten von Griechen, die mit Barbaren zusammenlebten.“




    Archäologische Ausgrabungen an antiken Stätten würden nahelegen, dass die Sklaverei nicht unbedingt eine Tragödie im Leben der damaligen Menschen war, führt der Archäologe Dragoș Hălmagi weiter aus.



    Wenn wir uns die Ausgrabungen an Orten anschauen, von denen wir wissen, dass es Sklaven dort gab, dann ist ihre archäologische Präsenz sehr ähnlich wie die der freien Menschen. Sie hatten zwar etwas ärmere Gräber mit weniger Gaben wie Gefä‎ßen und Metallgegenständen. Doch es gibt nichts Typisches in diesem Gräbern, was uns dazu verleiten würde zu sagen, dass es Sklavengräber sind. Archäologisch gesehen gibt es nichts, was einen Sklaven von einem freien Mann unterscheiden würde. Oft übernahmen die Sklaven die Traditionen des Ortes, und das zeigt sich an den Haussklaven, deren Kleidung und Gräber ähnlich jener der Familien aussahen, denen sie gehörten.“




    Die abhängige Bevölkerung hatte allerdings den gleichen Status wie die Sklaven. Aus ihrer Mitte wurden Arbeitskräfte rekrutiert, deren sozialer Status unsicher war. Nur wenige schriftliche Quellen erwähnen den Einsatz von Sklaven in der Landwirtschaft, doch Ausgrabungen haben ergeben, dass der Einsatz von Sklaven im Handwerk und im Bauwesen sehr wahrscheinlich war, insbesondere dort, wo Festungen, Siedlungen oder befestigte Anwesen entdeckt wurden. Die griechischen Quellen beziehen sich jedoch nicht nur auf die Geten, sondern sprechen von einer Vielzahl von Völkern. Neben den Geten tauchen in hellenistischen Texten aus dem 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr. auch Skythen, Sarmaten, Thraker und andere Völkerschaften auf. Sie bildeten ein wahres ethnisches Mosaik, in dem die politische Herrschaft abwechselnd durch die militärische Macht eines einzelnen Anführers ausgeübt wurde. Dem Archäologen Dragoș Hălmagi zufolge sei eine zuverlässige Quelle für die These des ethnischen Mosaiks der römische Dichter Ovid, der bekannterweise seinen letzten Lebensabschnitt im Exil am Pontus Euxinus verbrachte und die örtlichen Gepflogenheiten in seinen Schriften thematisierte.



    Der erste antike Autor, der sagt, dass hier mit Sicherheit Geten lebten, ist Ovid. Er sagt sogar mehr als das. Er erwähnt nicht nur die Geten, sondern auch ‚zahllose andere Bevölkerungen hier‘. Manchmal schreibt er das vielleicht, um seine Leser in der Ferne zu beeindrucken, an anderen Stellen spricht er möglicherweise über reale Dinge — das ist heute schwer zu sagen. Es gibt einige Passagen in Ovids Schriften, in denen er die Geten und die iranischstämmigen Sarmaten gemeinsam erwähnt. Ovid bezeichnet die Geten und die Sarmaten als Bogenschützen-Völker und behauptet auch, ihre Sprachen zu beherrschen. Auf jeden Fall schrieb er, dass die Geten und die Sarmaten am Schwarzen Meer stets gemeinsam auftreten. Schon bei der ersten Erwähnung der Geten tauchen sie in solchen Zusammenhängen auf.“

  • Entwicklungshilfe für Schwellenländer: Sozialistisches Rumänien verfolgte auch politische Ziele

    Entwicklungshilfe für Schwellenländer: Sozialistisches Rumänien verfolgte auch politische Ziele

    Einer der gro‎ßen Veränderungsprozesse, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzten, war die Entkolonialisierung der Welt. Ehemalige Kolonialmächte, vorrangig sogenannte westliche Staaten, mussten der Reihe nach die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien anerkennen, und die Beziehungen zwischen den westlichen Metropolen und den jungen unabhängigen Staaten wurden von neuen Positionen aus fortgesetzt. Aber auch von den sozialistischen Ländern des Ostblocks ging die Bereitschaft aus, die Länder des so genannten Globalen Südens“ in Lateinamerika, Afrika, Asien und Ozeanien im Namen des neuen Humanismus zu unterstützen. Zum Beziehungskomplex zwischen den alten und neuen Staaten, die aus ehemaligen Kolonien hervorgegangen waren, gehörte die humanitäre Hilfe als umfangreiche Möglichkeit der Unterstützung. Doch gleichzeitig wurden Hilfe und Unterstützung aus dem Westen nicht nur aus Nächstenliebe gewährleistet, sondern geschahen stillschweigend auch im Interesse derer, die sie anboten.



    Seit den 1970er Jahren machte sich auch das sozialistische Rumänien für die sogenannten Dritte Welt“ stark, wie der Globale Süden damals bezeichnet wurde. Die Länder des Ostblocks setzen bekannterweise auf den globalen Klassenkampf und die sozialistische Weltrevolution. Der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu war dabei keine Ausnahme — in seiner Au‎ßenpolitik sprach er von einer Öffnung gegenüber dem afrikanischen Kontinent, und die Unterstützung für sozialistische oder mit dem Sozialismus sympathisierende Länder in Asien sowie für kommunistische Bewegungen in Lateinamerika waren Teil seiner Profilierungssucht auf der internationalen Bühne.



    Die Historikerin Mia Jinga vom Institut für die Aufarbeitung der Verbrechen des Kommunismus und die Geschichte des rumänischen Exils (IICCMER) ist als Forscherin an einem weitgehenden Projekt beteiligt, das die Weltpolitik Rumäniens von den 1960er bis zu den 1980er Jahren erforscht. Sie kennt die Umstände, unter denen das sozialistische Rumänien humanitäre Hilfe leistete:



    In unserer Nachforschung haben wir eine Methode angewandt, um alle möglichen Ebenen der Hilfeleistung zu untersuchen, angefangen bei der klassischen humanitären Soforthilfe. Am Anfang ging es um Soforthilfe bei Naturkatastrophen wie Dürre, Überschwemmungen, Erdbeben und andere Desaster. Aber nicht nur Rumänien, sondern auch die anderen Ostblockländer und die westlichen Länder haben unterschiedliche Formen der Hilfe gewährleistet: Hilfe für Menschen in Konfliktgebieten oder Flüchtlingslagern, materielle und militärische Unterstützung für verschiedene Befreiungsbewegungen und kommunistische Parteien. Das meiste Geld ist tatsächlich dorthin geflossen. Au‎ßerdem wurden Stipendien für die voruniversitäre und universitäre Ausbildung sowie Praktika, Fachwissen und Ausrüstung bereitgestellt, die als Entwicklungshilfe verstanden wurden.“




    1979 half Rumänien Schwellenländern auf drei Kontinenten: Peru, Martinique, der Dominikanischen Republik, Nicaragua und Mexiko in Nord-, Mittel- und Südamerika; Benin, Äthiopien, Sudan, Burundi, Mosambik, Senegal, der Zentralafrikanischen Republik, Mauretanien, Kap Verde, Namibia, Guinea-Bissau in Afrika; dem Jemen und dem Libanon in Asien. Die Historikerin Mia Jinga weist darauf hin, dass humanitäre Hilfe und die Verfolgung eigener politischer Interessen oft zusammenfielen. So unterstützte Rumänien beispielsweise aktiv die marxistisch-leninistische Gruppe Zimbabwe African Peoples Union“ (ZAPU), die zwischen 1964 und 1979 im Bürgerkrieg in Rhodesien involviert war.



    Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass es nebst der humanitären und der Entwicklungshilfe weitere Ma‎ßnahmen gab, die politische Ziele verfolgten. Bei Naturkatastrophen zum Beispiel bestand die Hilfe in erster Linie aus Grundnahrungsmitteln, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Hilfe. Je nach Bedarf wurde die Unterstützung allerdings auch auf andere Bereiche ausgedehnt. Aus der Vielzahl der humanitären Aktionen habe ich mir die Unterstützung ZAPU-Aktivisten im damaligen Rhodesien angeschaut, die mir am interessantesten erschienen. Rund 9,5 Millionen Lei — das waren damals umgerechnet mehr als 2,1 Mio. USD — gingen 1979 an diese Organisation, während der durchschnittliche Betrag für eine gewöhnliche humanitäre Hilfeleistung bei nur knapp 56.000 Dollar lag. Die Diskrepanz ist enorm.“




    Die Historikerin Mia Jinga erläutert auch, welche politischen Überlegungen dahinter steckten, als Rumänien den sogenannten Schwellenländern Hilfe leistete.



    Ich habe mir näher angeschaut, wie humanitäre Hilfsprojekte durchgeführt wurden, wie sie ihren Anfang nahmen und wie sie endeten. Handelte es sich um eine Initiative des rumänischen Staates, oder war es im Gegenteil der Empfänger, der um Hilfeleistung bat? In allen Fällen, zumindest in denen, die ich bisher erforscht habe, wurde die Hilfe auf einen formellen Antrag hin gewährt, der an eine hohe politische Stelle gerichtet war. Der Antrag kam von einem bekannten Anführer einer Partei oder Bewegung im Bittstellerstaat, nicht selten nach einem Treffen mit Ceaușescu oder nach einem Besuch oder Treffen auf hoher Ebene im Ausland. Nach Eingang eines solchen Ersuchens verfasste die Abteilung für Au‎ßenbeziehungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rumäniens einen Vermerk, in dem sie begründete, ob sie den Antrag genehmigte oder ablehnte. Die Begründung enthielt auch eine kurze Geschichte der humanitären Hilfeleistungen für den Empfänger, die Beträge für jedes Jahr, ob man früher schon geholfen hatte, wie sachgemä‎ß die Hilfe verwendet worden war und ob sich diplomatische Verwerfungen aufgrund von weiteren Hilfeleistungen ergeben könnten. Es gab viele Situationen, in denen Rumänien gerne geholfen hätte, doch der weltpolitische Kontext war damals so angespannt, dass die Antwort »Nein« lautete. In allen Fällen hatte allerdings der Diktator Nicolae Ceaușescu das letzte Wort. Es gab auch Länder, die unter allen Umständen grünes Licht bekamen, wie es mit Vietnam der Fall war. Egal, wie viel das Land verlangte, Vietnam bekam es. Irgendwann dämmerte es Ceaușescu, dass er kein politisches Kapital daraus schlagen konnte. Er sagte damals sinngemä‎ß, dass Rumänien Vietnam schon seit 10 Jahren helfe und dass die Vietnamesen sich endlich einmal an die Arbeit machen sollten.“




    Das sozialistische Rumänien verfolgte — wie viele Staaten des Ostblocks — eine Politik der differenzierten Hilfe für die Schwellenländer. Die Archive offenbaren sowohl Erfolge als auch Misserfolge der verschiedenen Projekte, wobei Afrika in Ceaușescus Auffassung von einer rumänischen Weltpolitik der bevorzugte Kontinent war, den er bei zahlreichen Gelegenheiten besuchte.

  • Arbeiteraufstand von 1987 in Kronstadt jährt sich zum 35. Mal

    Arbeiteraufstand von 1987 in Kronstadt jährt sich zum 35. Mal





    Der Tag, der nicht in Vergessenheit gerät“ ist der Titel eines Buches, das zwei rumänische Zeithistoriker, Marius Oprea und Stejărel Olaru, dem antikommunistischen Arbeiteraufstand vom 15. November 1987 in Brașov (Kronstadt) gewidmet haben. Obwohl er brutal unterdrückt wurde, erschütterte der Aufstand die kommunistische Diktatur von Nicolae Ceaușescu und war, so sagen es die beiden Historiker, der Auftakt zur Revolution vom Dezember 1989, die nach fast 50 Jahren das von der sowjetischen Besatzungsarmee am Ende des Zweiten Weltkriegs an die Macht gehievte kommunistische Regime hinwegfegte.



    In Moskau brach der letzte sowjetische Staatschef, der Reformer Michail Gorbatschow, mit der Tradition des von Lenin und Stalin errichteten Polizeistaates und versuchte, dem System durch die so genannte Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umstrukturierung) ein menschliches Antlitz zu verpassen. In Polen, das wie Rumänien nach dem Krieg ein Satellitenstaat der Sowjetunion geworden war, legte die Arbeitergewerkschaft Solidarność durch Proteste und Marathonstreiks ein kommunistisches Regime lahm, das noch immer behauptete, im Namen und zum Wohle der Arbeiter zu regieren.



    Es ist kein Zufall, dass die Zornentladung der Arbeiter von Kronstadt ihren Ausgang auf einer der grö‎ßten industriellen Plattformen der sozialistischen Republik nahm: Im düsteren Klima der späten 1980er Jahre, als die Versorgungsengpässe mit einer lückenlosen polizeilichen Überwachung und einem wahnhaften Personenkult um Ceaușescu einherging, war die Stimmung in der Bevölkerung äu‎ßerst bedrückt und angespannt.



    Marius Boieriu, Vorsitzender des Kronstädter Vereins 15. November 1987“ erinnert sich, welche die Forderungen der aufständischen Arbeiter waren:



    Wir haben buchstäblich Brot gefordert, damals war es rationiert, man erhielt es nur unter Vorweisen einer Lebensmittelkarte und nach stundenlangem Schlangestehen nach der Arbeitsschicht. Wir haben ein funktionierendes Fernwärmesystem für unsere kalten Wohnungen gefordert, wo wir und insbesondere die Kinder der älteren Arbeitskollegen im Winter frieren mussten. Ich war damals 20 Jahre alt. Und wir forderten Freiheit. Um all dem Nachdruck zu verliehen, skandierten wir »Nieder mit Ceaușescu!«. Während unseres Aufmarschs in Richtung Parteikreisrat sangen wir das Revolutionslied von 1848 Erwache, Rumäne“, in der Hoffnung, dass sich die Bürger der Stadt auf unsere Seite schlagen und auf die Stra‎ße gehen. Doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis die Menschen tatsächlich aus ihrer Ohnmacht erwachten. Es ist schwer, in wenigen Worten zu beschreiben, was wir damals durchmachen mussten.“



    Nach dem Protest in den Fabriken stürmten die aufständischen Arbeiter den örtlichen Parteisitz und warfen Porträts von Ceaușescu und die roten Fahnen der kommunistischen Einheitspartei aus den Fenstern. In der Folge wurden rund 300 Demonstranten verhaftet und von der Securitate, der politischen Polizei des Regimes, unter Folter verhört. Offiziell wurden die Proteste als isolierte Fälle von Rowdytum“ eingestuft, und die Strafen gingen nicht über drei Jahre Gefängnis ohne Freiheitsentzug hinaus, eine relativ moderate Strafe im kommunistischen Strafgesetzbuch. Es wird auch eine Rolle gespielt haben, dass einige Tage nach den Unruhen Studenten in Brașov auf dem Campus ein Transparent mit der Aufschrift Verhaftete Arbeiter dürfen nicht sterben“ ausrollten, ein Zeichen dafür, dass die Unzufriedenheit über die Tore der Fabriken der Stadt hinausging und von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wurde.



    Zwei Jahre später setzte die Revolution von Dezember 1989 dem kommunistischen Regime ein Ende; der postkommunistische rumänische Staat tat sich allerdings Jahre danach noch schwer damit, die ehemalige Diktatur als verbrecherisch und unrechtmä‎ßig zu verurteilen.

  • Ausstellung im Bukarester Triumphbogen thematisiert Ersten Weltkrieg

    Ausstellung im Bukarester Triumphbogen thematisiert Ersten Weltkrieg





    Nach der Krönung von König Ferdinand I. und Königin Maria zum Herrscherpaar von Gro‎ßrumänien in der Kathedrale von Alba Iulia wurde am 16. Oktober 1922 auch der Triumphbogen in Bukarest eingeweiht. Das königliche Ehepaar und Gefolgschaft, diplomatische Vertreter einiger europäischen Staaten, militärische Einheiten und allegorische Wagen zogen damals in einer feierlichen Zeremonie unter dem Triumphbogen hindurch.



    Als Baudenkmal hat der Triumphbogen seinen Ursprung in der Architektur der römischen Antike, wo er allgegenwärtig war. Auch im modernen Bukarest wurden Triumphbögen als Zeugnis für Siege und gro‎ße staatliche Erfolge errichtet. Provisorische Triumphbögen waren in der rumänischen Hauptstadt schon beginnend mit dem 19. Jh. errichtet worden und sie sollten glorreiche Momente markieren: die Revolution von 1848, die Vereinigung der rumänischen Donaufürstentümer 1859, die Unabhängigkeit Rumäniens 1878, die 40-jährige Herrschaft von König Karl I. 1906 und den Sieg im Ersten Weltkrieg 1918.



    Der Triumphbogen, unter dem Ferdinand I. und Maria als Herrscher des Königreichs Gro‎ßrumänien in ihre Hauptstadt einzogen, wurde 1922 ursprünglich aus Holz errichtet. Doch schon damals fiel zugleich die Entscheidung, später einen steinernen Triumphbogen zu errichten. Der heutige Bogen ist 27 Meter hoch, er wurde vom rumänischen Architekten Petre Antonescu entworfen und 1936 eingeweiht.



    Als öffentliches Denkmal unter der Obhut der Stadt Bukarest eignet sich der Triumphbogen heute für Ausstellungen in den Hohlräumen der beiden Säulen. So hat man die Ereignisse vor 100 Jahren mit einer Ausstellung gewürdigt, die den rumänischen Soldaten gewidmet war, die im Ersten Weltkriegs kämpften. Die Ausstellung konzentrierte sich auf den Briefverkehr zwischen den an der Front kämpfenden Soldaten und ihren zu Hause verbliebenen Familienangehörigen und Freunden. Dramatik und Empfindsamkeit sind die prägenden menschlichen Gefühle, die dem heutigen Besucher aus den ausgestellten Zeitdokumenten entgegenkommen. Dabei wird deutlich, dass der Krieg an sich ein Irrsinn ist, auch wenn die Briefschreiber die politischen Hintergründe manchmal zu verstehen scheinen.



    Titus Bazac ist Aufsichtsbeamter beim Bukarester Amt für Raumgestaltung und öffentliche Denkmäler und kennt die Eckpfeiler der Ausstellung im Triumphbogen:



    Im Inneren der beiden Säulen sowie im Attikageschoss gibt es Hohlräume, die zu Ausstellungszwecken genutzt werden. In der Säule, die Besucher zum Aufstieg benutzen, ist das Innere eines Bauernhauses dargestellt, wo man einen weinende Mutter sehen kann, die Socken für ihren an der Front kämpfenden Sohn strickt. Die Frage steht im Raum, warum er an die Front gehen musste und ob es sinnvoll sei, den natürlichen Kreislauf des Lebens durch einen Krieg zu unterbrechen. Danach ist das Innere eines weiteren Hauses dargestellt, es kann ein städtisches oder ein ländliches Haus sein, wir sehen einen Tisch, auf dem eine Lampe steht. Auch dort fragt sich eine tränenreiche Mutter, warum sie all das durchmachen musste, man kann ihren inneren Kampf mit der Entscheidung nachfühlen, ihren Sohn gehen zu lassen.“




    An den Wänden im Inneren der Säule hängen entlang der Aufstiegstreppe Tafeln mit Collagen aus Fotografien und Faksimiles von Briefen aus den Archiven. Während sie die Treppe nach oben steigen, können die Besucher Bilder betrachten und Zeilen lesen, die einen erahnen lassen, wie die Menschen damals den Krieg erlebt haben. Mutter ist krank vor Sorge um dein Schicksal“, schreibt zum Beispiel eine junge Frau ihrem an der Front kämpfenden Bruder. Mein Liebster, ich und unser Kind warten, dass du unversehrt nach Hause kommst“, ist in einem anderen Brief zu lesen, den ein Offizier von seiner Ehefrau erhalten hatte. Mein Junge, bleib menschlich, sei dir deiner Pflicht bewusst und komm nachher heil nach Hause“, schreibt ein Vater seinem Sohn. Im Dachgeschoss geht der Besucher unter einer riesigen Papierrolle hindurch, die auf dem Deckengewölbe aufgerollt ist und sich von einer Säule des Bogens zur anderen erstreckt.



    Titus Bazac vom Bukarester Amt für Raumgestaltung und öffentliche Denkmäler erzählt im folgenden, was die Besucher der Ausstellung beim Hinuntersteigen über die Treppe im Inneren der anderen Säule des Triumphbogens sehen können:



    Entlang der Abstiegstreppe sehen wir die Rekonstruktion eines Schützengrabens mit seiner beklemmenden Enge. Dort sieht man einen Soldaten, der offenbar seinen Verstand verloren hatte, denn er schnitzt in einem fort und offensichtlich sinnlos an einem Holzpfahl. Ein weiterer Soldat will einen Brief an die Familie schreiben und hält inne, weil er nicht wei‎ß, mit welchen Worten er beginnen soll. Die letzte, etwas makabre Darstellung ist ein Grabmal. Auf einem Bildschirm ist zugleich ein Exekutionskommando zu sehen, das die Grausamkeiten symbolisiert, denen alle Soldaten im Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren. Man kann sich dabei an Szenen aus einem berühmten Roman des siebenbürgischen Schriftstellers Liviu Rebreanu erinnern, die er im Ersten Weltkrieg als Zeitzeuge sicherlich auch selbst erlebt hatte: Rumänen aus Siebenbürgen und anderen Kronländern der Doppelmonarchie, die in der K.u.k.-Armee an der Front gegen ihre Brüder aus dem Alten Königreich Rumänien kämpfen mussten. Viele desertierten damals, wurden nicht selten gefasst und standrechtlich erschossen. Es ist der vielleicht schauerlichste Abschnitt der Ausstellung.“

  • Kommunistische Widersacher Ceaușescus: Alexandru Bârlădeanu (1911–1997)

    Kommunistische Widersacher Ceaușescus: Alexandru Bârlădeanu (1911–1997)






    Die letzten 25 Jahre des kommunistischen Regimes in Rumänien waren von der Persönlichkeit des Diktators Nicolae Ceaușescu geprägt. Von 1965 bis 1989 führte er zunächst als Generalsekretär der Kommunistischen Partei, später zugleich auch als Staatspräsident die Geschicke Rumäniens mit eiserner Hand. Die Epoche war vom Personenkult des Diktators und seiner Ehefrau geprägt, Ceaușescu galt als brutal, launisch und engstirnig. Wirtschaftlich ging es im Land kontinuierlich bergab, insbesondere in den 1980er Jahren setzten sich die Menschen in Rumänien zunehmend mit materiellen Entbehrungen auseinander — die rigide Planwirtschaft führte zu chronischem Mangel an Basisprodukten auf dem Markt.



    Eine Opposition gab es aufgrund der alles überwachenden Geheimpolizei Securitate kaum — die wenigen mutigen Dissidenten wurden unter Hausarrest gestellt, mundtot gemacht oder ins Exil gezwungen. Selbst in den Reihen der kommunistischen Elite gab es nur wenige Widersacher — auch sie wurden aus den Machtkreisen entfernt, oder sie wählten aus eigenen Stücken die Isolation.



    Einer der wenigen hohen Parteifunktionäre, die den Mut hatten, es mit Nicolae Ceaușescu aufzunehmen, war der Ökonom Alexandru Bârlădeanu. Er wurde 1911 im Süden der heutigen Moldaurepublik geboren, damals noch eine Provinz des zaristischen Russlands. 1943 trat er in die Kommunistische Partei Rumäniens ein und nach 1944 bekleidete er hohe Ämter in der damaligen Hierarchie. Als Vertrauter des stalinistischen Generalsekretärs Gheorghe Gheorghiu-Dej, des Vorgänger Ceaușescus, hatte Alexandru Bârlădeanu mehrmals Ministerposten inne und bekleidete höhere Ämter in der Volksversammlung, dem damaligen Parlament. Nach dem Tod Gheorghiu-Dejs im Jahr 1965 wechselte Bârlădeanu ins Lager der Reformisten und geriet in Konflikte mit dem neuen Machthaber Nicolae Ceaușescu.



    Im Sommer 1989 war er einer der sechs hochrangigen Parteifunktionäre, die einen offenen Brief an Ceaușescu verfassten, in dem der Diktator zu Reformen aufgefordert wurde. Der Brief gelangte allerdings nie an die Öffentlichkeit, wurde aber bei Radio Free Europe und anderen westlichen Sendern verlesen und eifrig kommentiert. Nach dem Umsturz von 1989 war Bârlădeanu von 1990 bis 1992 Parlamentsabgeordneter und verstarb 1997 im Alter von 86 Jahren.



    In einem Interview von 1995 mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte des Rumänischen Rundfunks erinnerte sich Alexandru Bârlădeanu, dass seine Divergenzen mit Ceaușescu bereits beim 9. Parteikongress 1965 ihren Anfang hatten, als Ceaușescu zum Generalsekretär gewählt wurde. Die beiden hatten unterschiedliche Ansichten über die Gewichtung von Investitionen und Konsum in der sozialistischen Planwirtschaft.



    In der Meinungsverschiedenheit mit Ceaușescu ging es um die Aufteilung des Bruttoinlandsproduktes zwischen dem Konsumfonds und dem Rücklagenfonds. Ich nahm darauf Bezug in meiner Rede beim Parteikongress. Ich sagte sinngemä‎ß, dass zu hohe staatliche Investitionen den Lebensstandard sinken lassen und zu niedrige Investitionen hingegen die Entwicklung des Landes hemmen würden. Ich sagte auch — und hier kam es erneut zum Streit –, dass die Entscheidung über diese Proportion aus politischem Gespür kommen muss, während Ceaușescu in einem fort von einer wissenschaftlichen Entscheidung sprach. Das hatte nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit der Kunst der Politik und dem Gespür für das Richtige.“




    Die Antipathie der beiden gegeneinander nahm mit der Zeit zu. Zu einem weiteren Eklat kam es 1966, als in Rumänien die Abtreibungen verboten wurden — mit katastrophalen Folgen über Jahrzehnte für die Familienplanung, die Gesundheit der Frauen und das Schicksal ungewollter Kinder. Alexandru Bârlădeanu erinnerte sich im Gespräch von 1995, wie der verbale Schlagabtausch über die Bühne lief:



    Wir hatten entlang der Zeit mehrere Auseinandersetzungen, in denen wir völlig entgegengesetzte Meinungen vertraten. Einen grundlegenden Dissens hatten wir im Zusammenhang mit den Abtreibungen. Im Sommer nach der Wahl Ceaușescus zum Generalsekretär war ich im Urlaub am Schwarzen Meer, als er urplötzlich eine Sitzung des Exekutivkomitees einberief. Ich reiste aus Costinești an, und Ceaușescu setzte aus heiterem Himmel das Thema Abtreibungen auf die Agenda. Ich war gegen das Verbot und sagte es auch unverblümt: Die Sache sei wissenschaftlich nicht genügend untersucht worden, und ohne Studien könne man keine richtige Entscheidung treffen. Der damalige Ministerpräsident Ion Gheorghe Maurer pflichtete mir sogar bei und sagte etwas Ähnliches — man müsse die Frage der Abtreibungen erst einmal wissenschaftlich untersuchen lassen. Doch Ceaușescu brauste auf und sagte: ‚Mit diesem Vorschlag will Genosse Bârlădeanu blo‎ß die Prostitution in Rumänien unterstützen!‘“




    Der Konflikt zwischen Ceaușescu und Bârlădeanu entbrannte auch an der Frage, wie gro‎ß Bauernhöfe in einer kollektivierten Landwirtschaft noch sein durften. Auch hier versuchte Alexandru Bârlădeanu, dem Diktator einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch Bârlădeanu ging erneut als Verlierer aus dem Konflikt heraus und beschloss bald darauf, unter dem Vorwand einer unheilbaren Krankheit in den Ruhestand zu gehen.



    Ceaușescu wollte Bauerngehöfte auf 500 Quadratmeter begrenzen. Ich kann mich zwar nicht mehr genau an die Argumente dieser Auseinandersetzung erinnern, doch Ceaușescu war ständig gegen andere Meinungen. 1968 hatten wir erneut einen Disput, ich hatte die Nase voll und danach entschied ich, mich aus der Politik zu verabschieden. Ich hatte bereits Symptome einer anfänglichen Blutkrankheit gehabt, und ein bekannter Hämatologe aus Paris, der mich untersucht hatte, stellte mir eine Bescheinigung aus, dass die Krankheit 7 von 10 Chancen habe, einen fatalen Ausgang zu haben, wenn ich von der Arbeit nicht befreit werden würde. Diesen ärztlichen Befund zeigte ich Ceaușescu.“




    Alexandru Bârlădeanu wählte somit nach 1968 die Selbstisolation, wie auch andere kommunistische Widersacher Ceaușescus, denn der ständige Konflikt mit dem Diktator wäre aussichtslos gewesen, wie Bârlădeanu im Interview von 1995 mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte des Rumänischen Rundfunks eröffnete:



    Ich leitete damals den Wissenschaftsrat und lie‎ß Ceaușescu Vorschläge zukommen, wie man den Rat und generell den Bereich der Wissenschaften umorganisieren könnte. Mehrere Tage darauf erhielt ich keine Antwort, und auf meine Frage, ob er mein Referat gelesen habe, reagierte er erneut unwirsch und sagte nur: ‚Glaubst du denn wirklich, dass du mir beibringen kannst, was Wissenschaft ist?!‘. Soviel zu seinem Führungsstil. 1968 fällte ich dann die Entscheidung, mich dieser Art, Politik zu betreiben, fern zu halten. Ich hatte begriffen, dass Ceaușescus Wirtschaftspolitik ins Desaster führen würde. Und ich habe nie einen Hehl daraus gemacht.“




    Tatsächlich führte Ceaușescus Renitenz — selbst gegen Berater aus dem kommunistischen Machtkreis — zu einer beispiellosen Wirtschaftskrise in den 1980ern. Mangelwirtschaft und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit hatten das sozialistische Rumänien in den Spätachtzigern in eine beispiellose Misere und Isolation geführt, aus denen sich das Land erst 1989 befreien konnte.

  • Schlangeninsel: unscheinbares Eiland von strategischer Bedeutung

    Schlangeninsel: unscheinbares Eiland von strategischer Bedeutung





    Am 25. Februar 2022 kreuzte ein russisches Kriegsschiff vor der sogenannten Schlangeninsel auf und forderte die ukrainischen Grenzsoldaten auf, sich zu ergeben. Nach einem kurzen Beschuss des Grenzpostens wurde die Insel von den russischen Streitkräften besetzt und die ukrainischen Wachtposten gefangen genommen.



    Die Schlangeninsel liegt nur 20 Seemeilen oder rund 44 km von der Donaumündung entfernt vor der Schwarzmeerküste Rumäniens — der Felsen aus Kalkstein hat keine Sü‎ßwasserquellen, so dass die karge Vegetation nur aus Schilf und Disteln besteht. Der Name des Eilands rührt von den kleinen, ungiftigen Wasserschlangen her, die früher dort anzutreffen waren; mit einer Fläche von 17 Hektar misst die Insel 440 m auf der Nord-Süd-Achse und 662 m von Osten nach Westen. Die unwirtlichen Lebensbedingungen machen die Insel unbewohnt — bis auf Grenzsoldaten oder vorübergehenden wissenschaftlichen Missionen gibt es keine permanenten menschlichen Siedlungen auf dem kleinen Felsen.



    Doch bereits in der Antike wurde die Insel von Fischern als saisonale Niederlassung genutzt — sie erhielt damals den mythische Namen Leuke (altgriechisch für Die Wei‎ße“) oder Achilleis (nach dem Achilles-Kult), und selbst Händler aus dem antiken Milet sollen einst hier angelandet sein. Im 16. Jh. gerät die Insel in den osmanischen Herrschaftsbereich und wird fortan Fidonisi — neugriechisch für Schlangeninsel — genannt. Nach den russisch-türkischen Kriegen gelangt mit dem Frieden von Adrianopel die Schlangeninsel 1829 in Besitz des Russischen Zarenreichs — 1842 errichten die Russen hier einen Leuchtturm. Nach einem weiteren russisch-türkischen Krieg erhält kraft des Berliner Friedensvertrags von 1878 das junge Königreich Rumänien das Donaudelta und die Dobrudscha samt der Schlangeninsel. Während des Zweiten Weltkriegs und nach der Annexion Bessarabiens und der Nordbukowina als Folge des Hitler-Stalin-Paktes von 1940 bleibt die Schlangeninsel im Besitz Rumäniens.



    Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Pariser Friedensvertrag von 1947 änderte sich der Status der Insel zunächst nicht, doch die Sowjetunion annektierte das Eiland bald darauf. Durch zwei Protokolle vom 4. Februar bzw. 23. Mai 1948 geht die Schlangeninsel in sowjetischen Besitz über — beide Dokumente werden allerdings nie ratifiziert. Mehr noch: Am 25. November 1949 versetzt die Sowjetunion eigenmächtig auch die gemeinsame Grenze entlang der Donau zu ihren Gunsten — die neue Grenze zwischen Rumänien und der UdSSR verläuft nun entlang des Musura-Kanals, westlich der Mündung des nördlichsten Donauarms Kilija (rum. Chilia) ins Schwarze Meer.



    Eduard Mezincescu war damals stellvertretender Au‎ßenminister der Volksrepublik Rumänien und unterzeichnete für sein Land die erzwungene Abtretung der Schlangeninsel an die Sowjetunion. In einem Interview mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte des Rumänischen Rundfunks erinnerte er sich 1994 an die Umstände der Unterzeichnung des ominösen Protokolls:



    1948 wies mich die damalige Au‎ßenministerin Ana Pauker an, den Sowjets entgegenzukommen, denn bei der Grenzziehung nach dem Krieg habe man vergessen, die Schlangeninsel der Sowjetunion zu überlassen, und nun würde der mächtige Nachbar das Eiland für sich beanspruchen, sagte sie. Zusammen mit dem Minister für öffentliche Bauarbeiten fuhr ich nach Tulcea, dann nach Sulina, und wir setzten anschlie‎ßend auf die Insel über, wo die Sowjets bereits anwesend und durch den Botschafter, den Vize-Au‎ßenminister und einigen Militärs vertreten waren. Ein gro‎ßer Tisch war im Freien aufgestellt worden, und das Protokoll stand zur Unterzeichnung bereit. Ich lie‎ß mir etwas einfallen, um die Sowjets zu verärgern. Ich sagte, ich möchte den Felsen erst inspizieren, bevor ich die Abtretung unterzeichne — schlie‎ßlich dürfe ein solcher Akt nur in Kenntnis aller Einzelheiten über die Bühne laufen. Und so mussten alle Anwesenden — sehr zum Verdruss der Sowjets — eine Inseltour zu Fu‎ß unternehmen. Mit diesem launischen Einfall habe ich die Unterzeichnung des Protokolls etwas verzögert.“




    Doch die Kaprice des rumänischen Diplomaten nutzte nicht viel. Durch die Abtretung Bessarabiens an die Sowjetunion musste auch die neue Grenze nördlich des Donaudeltas zwischen beiden Staaten festgelegt werden. Der Admiral Constantin Necula war während des Zweiten Weltkriegs Sicherheitsbeauftragter für die rumänische Schifffahrt im Schwarzen Meer gewesen. Nach dem Krieg nahm er an einem ersten Treffen mit Vertretern der UdSSR teil, die ihre ursprünglichen Forderungen noch überboten und auch Teile des Donaudeltas der Sowjetunion anschlie‎ßen wollten. In einem Interview mit dem Zentrum für mündlich überlieferte Geschichte des Rumänischen Rundfunks erinnerte sich Necula 1999, wie die ersten Verhandlungen abliefen:



    Nach dem 23. August 1944 begannen die ersten Gespräche über die neue Grenzziehung zwischen Rumänien und der Sowjetunion. Ich wurde nach Sulina beordert, um mich mit zwei sowjetischen Offizieren über den Verlauf der maritimen Grenze zu unterhalten. Von meinen Vorgesetzten hatte ich überhaupt keine Unterweisungen erhalten, wohl auch, weil wir keine Experten auf dem Gebiet hatten. Mir wurde nur gesagt, dass die Sowjets eine neue Grenze etablieren wollten, doch niemand wusste etwas Genaues über deren Verlauf. Man legte mir nur nahe, ich solle vorsichtige Gespräche mit den Sowjets führen und mich ja nicht in einen Konflikt verwickeln lassen. Als ich in Sulina ankam, hatten die zwei sowjetischen Offiziere den neuen Verlauf der Grenze bereits festgelegt. Sie hatten 1–1,5 km nördlich vom Hafen in Sulina eine Boje aufgestellt und sagten schlicht, dort würde die neue Grenze verlaufen, nämlich entlang des nördlichen Kilija-Arms der Donau, aber auch entlang des kleinen Ablegers, der nach Süden floss. Somit wollten sie ein ganzes Stück des Donaudeltas, das vom Kilija-Arm abgesteckt wurde, der Sowjetunion einverleiben. Danach bog die neue Grenze nach Osten ab. Und die Boje hatten sie so aufgestellt, dass die Senkrechte entlang der rumänischen Küste südlich der Schlangeninsel verlief, womit auch das Eiland in den Territorialgewässern der Sowjetunion bleiben sollte. Die Sowjets hatten schon eine Akte mit einer Landkarte und einem Protokoll vorbereitet und wollten mich unterzeichnen lassen, was ich ablehnte. Ich sagte nur, ich wäre nicht bevollmächtigt, der Aufstellung von Bojen oder Gebietsabtretungen durch meine Unterschrift zuzustimmen.“




    Rumänien wurde damit — zumindest was die Schlangeninsel anbelangt — vor vollendete Tatsachen gestellt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Schlangeninsel ein Teil der Ukraine. Ein jahrelanger Streit über die Abgrenzung des Kontinentalsockels im Schwarzen Meer und damit auch über die jeweils exklusive Wirtschaftszone in den Territorialgewässern brach daraufhin zwischen Rumänien und dem neuen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Der Streit wurde schlie‎ßlich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geschlichtet. Mit dem Urteil vom 3. Februar 2009 wurden Rumänien 9700 km2 als exklusive Wirtschaftszone zugesprochen — das entspricht knapp 80% der umstrittenen Fläche im Schwarzen Meer, die Ukraine bekam 20% als souveränes Nutzungsareal. Die Schlangeninsel selbst blieb allerdings ein Teil der Ukraine. Seit dem 25. Februar 2022 ist das Eiland von russischen Streitkräften besetzt.